• 27.05.2016 15:46

  • von Mark Glendenning (Haymarket)

Scott Brayton: Der Indy-Polesetter, der das Rennen nie erlebte

11. Mai 1996, 18:00 Uhr: Scott Brayton holt sich die Pole-Position zum Indianapolis 500 - 17. Mai 1996, 12:17 Uhr: Scott Brayton stirbt bei einem Trainingsunfall

(Motorsport-Total.com) - Es war bereits "Happy Hour" am Pole-Day auf dem Indianapolis Motor Speedway, und obwohl es am Morgen leicht geregnet hatte, bekamen die Zuschauer für ihr Geld etwas geboten. Der "schnellste Tag im Motorsport" machte seinem Namen alle Ehre. An diesem Nachmittag wurde der Streckenrekord bereits dreimal gebrochen: Erst durch Davy Jones, dann durch Rookie Tony Stewart, dann durch Arie Luyendyk.

Titel-Bild zur News: Scott Brayton

Scott Brayton sicherte sich 1996 die Indy-Pole, erlebte das Rennen aber nicht mehr Zoom

Es waren nur noch 25 Minuten zu fahren, und niemand schien noch einmal rauszugehen. Der Kampf um die Pole war scheinbar entschieden. Dann zog Scott Brayton seinen Helm auf. Das Indy 500 im Jahr 1996 war das Jahr das CART-Boykotts, und durch die Regeln der damaligen Zeit - die dazu beitrugen, dass keine CART-Teams dabei waren - war Braytons Auto mit der Nummer 2 sicher beim Indy 500 dabei, bevor sich überhaupt ein Rad gedreht hatte.

Die Regel besagte, dass die Top 25 in der IRL-Tabelle einen automatischen Platz im Feld bekommen. Trotzdem war er an diesem Tag schnell. Sein Schnitt von 232,684 Meilen pro Stunde war genug, um sicher in der zweiten Reihe zu stehen. Doch für Larry Curry, Braytons Crewchief beim Menard-Team, der sich Luyendyks Runde angesehen und etwas gerechnet hatte, war das nicht genug.

Mit vollem Risiko auf die Pole-Position

"Ich wusste, dass ich Ersatzautos hatte, die schneller waren als das, was Arie vorgelegt hatte. Sie waren auch schneller als das Auto, in dem sich Scott qualifiziert hatte", berichtet er. "Ich wusste, dass Arie kein Ersatzauto hat. Also musste ich warten, bis Arie eine Zeit gesetzt hatte. Dann ging ich zu Scott und sagte: 'Willst du noch einmal raus und die Pole angreifen? Denn ich glaube, dass dieses andere Auto es schaffen kann.' Er sagte: 'Klar.'"

Scott Brayton

Crewchief Larry Curry hatte ein besonderes Ass im Ärmel... Zoom

Doch es war nicht so einfach, wie es sich anhörte. Curry wollte von Brayton nicht nur, dass er die Bestzeit unterbietet, er wollte, dass er sein Auto abgibt. Und wenn sie die Nummer 2 zurückziehen würden, dann würde damit auch die garantierte Teilnahme verfallen. Jeder Fehler hätte potenziell nicht nur dafür sorgen können, dass Brayton Platz fünf verliert, sondern dass er es gar nicht mehr ins Feld schafft. "Ich vergewisserte mich, dass er wusste, dass wir draußen sind, wenn wir es vermasseln", verrät Curry. Sie vermasselten es nicht.

Brayton, jetzt im Ersatzauto mit der Nummer 32, absolvierte seine vier Runden mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 233.718 Meilen pro Stunde - nur 0,3 Meilen schneller als Luyendyk - und sicherte sich im zweiten Jahr in Folge die Pole-Position. Die Aktion entfachte starke Reaktionen bei den Zuschauern und schockte die Personen in der Boxengasse. Richie Simon, der mit Brayton in den Jahren zusammenarbeitete, in denen dieser für Richies Vater Dick gefahren war, traute seinen Augen nicht.

"Ich hatte es nie zuvor erlebt, dass ein Kerl ein (qualifiziertes; Anm. d. Red.) Auto vom Rennen zurückzog, sich in einem anderen Auto neu qualifizierte und dann auch noch auf die Pole fuhr", verrät er und ergänzt: "Ich erinnere mich noch immer daran, wie (Streckensprecher) Tom Carnegie sagte: 'Er hat es geschafft! Er hat es geschafft! Er hat es geschafft!'" Sechs Tage später war Brayton tot.

1996 als große Chance

Die Sterne standen 1996 gut für Brayton. Mit 37 und 15 Teilnahmen zuvor war er bereits ein erfahrener Pilot auf dem Brickyard. Seine bisherigen Ergebnisse waren allerdings bescheiden: Sein bestes Ergebnis waren zwei sechste Plätze 1989 und 1993, jeweils mit Dick Simon Racing. Der Wechsel zu Menard verschaffte ihm die furchterregenden selbst entwickelten Buick-Motoren, die ihm 1995 die Pole in Indy ermöglichten.

Scott Brayton

Scott Brayton entschied sich dazu, seinen sicheren Startplatz aufs Spiel zu setzen Zoom

Allerdings fehlte ihm während des Rennens der nötige Boost, und er verschwand im Mittelfeld. Doch 1996 hatte das Team seine Lektion gelernt. Die Abstinenz der CART-Teams bedeutete außerdem, dass viele Fahrer, die Brayton ansonsten herausgefordert hätte, stattdessen in Michigan fuhren. Es war keinesfalls ein Spaziergang, doch der Wind stand für ihn zu Beginn des Monats Mai ganz sicher günstig.

Brayton wird möglicherweise als Antwort seiner Generation auf Ed Carpenter beschrieben, doch seine Fähigkeiten waren noch klar definierter. Auf Rund- und Straßenkursen war er kaum eine Bedrohung, und auch auf Shorttracks war er nicht die erste Wahl. Allerdings konnte er dann abliefern, wenn alles gut lief. Das einzige Podium seiner Karriere war ein dritter Platz, den er 1992 in Milwaukee erbte, als Rick Mears mit einem Motorproblem spät zurückfiel. Brayton hatte sich in Reihe zwei qualifiziert und fuhr bis dahin den ganzen Nachmittag an vierter Position.

In Indy war er allerdings in seinem Element - besonders im Qualifying. Der langjährige Journalist Robin Miller beschreibt Brayton als einen der mutigsten Fahrer, die er je gesehen hat. Sein Mut war gepaart mit einem Instinkt dafür, wie er sein Auto bei unbeschreiblicher Geschwindigkeit durch vier fliegende Runde bringen konnte. Und das auf einer Strecke, die sich minütlich änderte.

Eine Leidenschaft für Indy

"Ich hatte nie einen Piloten, der 'freier' war als er, wenn er in Indy fuhr. Er war einfach ein unglaublicher Qualifier. Unglaublich", sagt Curry. Braytons Leidenschaft für Indy definierte ihn als Piloten im wahrsten Sinne. Es war wie eine etwas rigidere Version von Steve McQueens berühmtem Le-Mans-Zitat: Indy war das Leben. Alle Rennen davor oder danach waren nur Warten.

Scott Brayton

Das Inday 500 im Jahr 19996 hätte Scott Braytons großer Moment werden können Zoom

"Ich baute für Indy in diesem Jahr (1996) einen neuen Buick V6", verrät Curry. "Auf dem Prüfstand sah er großartig aus, aber ich wollte, dass Scott damit nur drei Kurven (bei Höchstgeschwindigkeit) fährt, um ein paar Daten zu sammeln. Damals wolltest du deine Karten nicht offenlegen, denn sonst schritten die Offiziellen ein, änderten den Boost und bremsten dich ein."

"Also sagte ich: 'Scott, du fährst da draußen keine volle Runde.' Wenn du in Indy getestet hast, dann standen immer eine Menge Leute mit Stoppuhren um dich herum. Er ging also raus und fuhr, und in Kurve 4 wollte ich abbrechen. Auf dieser Runde war er mit mehr als 237 Meilen unterwegs. Ich sage am Funk: 'Scott, wag es nicht, diese Runde zu beenden!' All die Jungs standen dort und alle nahmen die Zeit."

"Er fuhr die Runde in 237-irgendwas zu Ende, und alle schauten auf ihre Uhren, als wären sie kaputt. Anstatt reinzukommen fuhr er noch eine Runde, die sogar noch schneller war. Zu diesem Zeitpunkt wusste er schon, dass ich unfassbar sauer bin. Als er in die Box kam, da klappte er sein Visier hoch und hatte dieses große Lächeln auf dem Gesicht. Ich fragte: 'Warum zur Hölle hast du das gemacht?' Und er sagte: 'Ich sah den Speed auf der Anzeige und dachte mir, dass das nicht stimmen kann...'"

Der tragische Moment

Kurz nach Mittag am 17. Mai ging Brayton in einem Ersatzauto des Teams auf die Strecke, um an seinem Rennsetup zu arbeiten. Es war ein produktiver Morgen: Er absolvierte 52 Runden und war mit 234 Meilen pro Stunde unterwegs, als sein Auto am Eingang von Kurve 2 ausbrach. Es gab keine Möglichkeit, das zu verhindern: Zwischen dem Verlust der Traktion am Heck und dem Einschlag in der äußeren Mauer vergingen nur zwei Sekunden.

Larry Curry

Nach dem tragischen Unfall war die Anteilnahme überwältigend Zoom

Curry erinnert sich: "Ich fragte am Funk immer wieder: 'Scott, bist du okay? Bist du okay? Aber ich bekam keine Antwort. Lee (Braytons Vater) war bei mir in der Box und hatte ebenfalls einen Kopfhörer. Lee sah mich an, ich sah ihn an und sagte: 'Lee, wir schauen besser nach, was da los ist.'"

Als Curry an der Unfallstelle eintraf, war Brayton bereits ins nahegelegene Krankenhaus gebracht worden. Sein Tod wurde 33 Minuten nach dem Aufprall festgestellt. Die Öffentlichkeit erfuhr allerdings erst drei Stunden später davon, weil die IRL-Offiziellen zunächst seine Mutter kontaktieren wollten.

Die Analyse des Unfalls ergab später, dass Brayton vermutlich in der vorherigen Runde in Kurve 4 über ein Trümmerteil gefahren war. Er fuhr ahnungslos weiter, bis sein rechter Hinterreifen ohne Vorwarnung versagte. "Unsere Analyse legt den Schluss nahe, dass sein rechter Hinterreifen Luft verlor. Die Art und Weise, in der das passierte, führt uns zu dem Schluss, dass der Reifen aufgeschlitzt wurde", sagte Tony Troiano von Hersteller Firestone kurz nach dem Unfall.

"Indy kann dich kaputtmachen"

"Wir werden die Überreste des Reifens weiter analysieren, und diese Analyse deutet bisher nicht auf einen strukturellen Fehler hin", so Troiano. Im Fahrerlager herrschte tiefe Trauer, die sich bei Braytons Beerdigung widerspiegelte: Mehr als 1.000 Trauernde fanden den Weg in seine Heimatstadt Coldwater in Michigan, drei Stunden nördlich des Speedways. IRL-Chef Tony George führte der Trauerzug in einem Dodge-Viper-Pace-Car an.


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Zu diesem Zeitpunkt ist es verlockend, das Timing von Braytons Unfall zu überspitzen. Nach Jahren der Enttäuschungen, Fehlstarts und unglücklichen Ausfälle, verweigerte ihm das Schicksal seine erste Chance beim Indy 500 in einem Auto, das den Speed und die Zuverlässigkeit hatte, um das Rennen zu gewinnen. Aber so ist der Speedway.

20 Jahre nach Braytons Tod sinniert Tony Kanaan darüber, dass du nie das Gefühl haben kannst, dass Indy dir irgendetwas schuldet. "Dieser Ort steigt in deinen Kopf", erklärt er. "Er kann dein Leben beeinflussen. Es ist ist cool, aber du musst damit klarkommen, denn es kann dich kaputtmachen." Genau das macht Indianapolis so fesselnd. Brayton verstand das besser als jeder andere Pilot seiner Generation.