MotoGP-Kolumne: Ein großes Finale mit lauter Verlierern

Ein solches Finale hat die MotoGP-Saison 2015 nicht verdient, findet Redakteur Markus Lüttgens. Denn es bleiben am Ende mehr Verlierer als Gewinner zurück

Liebe Freunde des gepflegten Wheelies,

Titel-Bild zur News: Valentino Rossi

Valentino Rossi ist beim Kampf um WM-Titel Nr. 10 knapp gescheitert Zoom

#TheGrandFinale - dieser vom Vermarkter Dorna erdachte Hashtag war das Motto, unter dem das letzte Rennwochenende der MotoGP-Saison 2015 stand. Es sollte der ultimative Showdown einer Saison sein, wie sie die MotoGP wohl noch selten zuvor gesehen hat, und wie sie sich jeder Motorsport-Fan nur wünschen konnte. Was haben wir 2015 nicht alles erlebt?

Dramatische Rennen mit beinharten Kämpfen fantastischer Fahrer. Knallharte Überholmanöver ohne die Zuhilfenahme technischer Hilfsmittel wie DRS und Co. Rennen, die teilweise erst in der letzten Kurve entschieden wurden, und zwar nicht durch die Technik des Fahrzeugs, sondern alleine durch das Können des Fahrers. Und eine Ikone des Motorsports, die im Alter von 36 Jahre noch einmal die Chance hatte, ihre ohnehin schon einmalige Karriere mit einem zehnten WM-Titel zu krönen.

Für mich war in diesem Jahr die MotoGP die wahre Königsklasse des Motorsports und hätte sich ein wirklich großes Finale verdient gehabt. Die Zutaten waren dafür vorbereitet, und die Dorna tat mit einer Inszenierung und TV-Übertragung, von der sich die Formel 1 eine dicke Scheibe abschneiden kann, alles dafür, dass aus diesen Zutaten ein Leckerbissen wird.

Und trotzdem bleibt bei mir nach dem Rennen von Valencia ein fahler Beigeschmack im Mund zurück. Denn es gab zwar mit Jorge Lorenzo einen offiziellen und verdienten Sieger, doch als Gewinner darf sich nach diesem Finale eigentlich keiner der Hauptbeteiligten fühlen. Im Gegenteil, ich sehe am Ende einer grandiosen Saison hauptsächlich Verlierer.

Verlierer Nummer 1: Valentino Rossi

Natürlich ist "Il dottore" der offensichtlichste Verlierer. Es war für ihn die historische Chance, sechs Jahre nach seinem letzten Titelgewinn und einigen schwierigen Saisons seine Karriere mit einem zehnten WM-Titel zu krönen. Und viele Chancen dieser Art werden sich ihm wohl nicht mehr bieten, denn wenn die nächste Saison beginnt, wird Rossi bereits 37 Jahre alt sein. Seine Zeit in der MotoGP läuft ab.

Valentino Rossi, Bradley Smith

Valentino Rossis grandiose Aufholjagd in Valencia reichte am Ende nicht aus Zoom

Und was wäre das für ein Märchen gewesen, wenn Rossi vom Ende des Feldes das Unmögliche möglich gemacht hätte und zum WM-Titel gefahren wäre! Doch es sollte nicht sein, und daran war, so weit lehne ich mich jetzt mal aus dem Fenster, nicht einmal die Rückversetzung als Strafe für sein Tête-à-Tête mit Marc Marquez beim Rennen in Sepang schuld. Denn gemessen an den Eindrücken der Trainings und seiner Pace im Rennen glaube ich nicht, dass für Rossi ohne die Strafversetzung am Ende mehr als Rang vier drin gewesen wäre.

Aber verloren hat Rossi die WM ohnehin nicht in Valencia, wo er mit seiner Fahrt quer durchs Feld seine Klasse noch einmal unter Beweis gestellt hat. Verloren hat er sie auch nicht bei diesem heiß diskutierten Zwischenfall mit Marquez in Sepang, über den die Meinungen bis heute weit auseinander gehen. Verloren hat Rossi die WM meiner Meinung nach abseits der Rennstrecke, indem er sich in ein Psychospiel verwickelt hat, das unter dem Strich für ihn nach hinten los ging.

Natürlich hat Marc Marquez im WM-Kampf eindeutig Partei bezogen, und zwar gegen Rossi und für seinen Landsmann Jorge Lorenzo (dazu gleich mehr). Umso mehr hat es mich gewundert, dass Rossi es nicht den Fans überlassen hat, sich in dieser Angelegenheit ihr eigenes Bild zu machen. In seinem Alter hätte ich da etwas mehr Souveränität erwartet, doch anstatt diesen Nebenkriegsschauplatz zu befrieden, goss Rossi mit seinen Verbalattacken gegen Marquez weiteres Öl ins Feuer.


Fotos: MotoGP-Finale in Valencia, Rennen


Vielleicht glaubte er, er könne seinen jungen Rivalen dadurch verunsichern oder besänftigen, doch dieser Schuss ging nach hinten los. Vielmehr schien sich Marquez zu denken: Jetzt zeige ich es ihm erst recht. Wer weiß, ob die Situation in Sepang derartig eskaliert wäre, wenn vorher verbal abgerüstet worden wäre. Ich jedenfalls bin der Meinung, Rossi hätte besser daran getan, die Antwort sportlich auf der Rennstrecke anstatt bei Medienrunden zu geben. Wobei die Rolle des Märtyrers natürlich auch ein geschickter PR-Schachzug sein kann, denn Rossis Popularitätswerte dürften spätestens seit Sonntag ein neues Allzeithoch erreicht haben.

Verlierer Nummer 2: Marc Marquez

Jorge Lorenzo, Marc Marquez

Konnte Marc Marquez Jorge Lorenzo nicht angreifen oder wollte er nicht? Zoom

Marc Marquez hätte in der MotoGP zu einem der allergrößten Fahrer werden können. Was hat uns der Junge mit seiner unbekümmerten Art und der entschlossenen und spektakulären Fahrweise in den vergangenen drei Jahren nicht begeistert! Mit 22 Jahren schon vier WM-Titel in der Tasche und eine goldene Zukunft noch vor sich. Doch was ist all das jetzt noch wert?

Marquez hat all den Kredit, den er sich in den vergangenen Jahren erarbeitet hat, innerhalb weniger Wochen verspielt. Und das zurecht, denn dass ein Fahrer derart offensichtlich in eine WM-Entscheidung eingreift und damit das sportliche Ergebnis verzerrt, habe ich noch selten in dieser dreisten Form erlebt. Das war eine grobe Unsportlichkeit!

Und damit meine ich auch hier nicht in erster Linie das Rennen von Valencia. Ob er Lorenzo tatsächlich hätte angreifen wollen oder können, weiß letztlich nur Marquez selbst. Der neue Weltmeister ist am Sonntag ein starkes Rennen gefahren, vielleicht konnte Marquez ihm tatsächlich nichts entgegensetzen. In meiner Rolle als Motorsport-Journalist muss ich hier prinzipiell die Unschuldsvermutung gelten lassen.

Doch natürlich habe auch ich Augen im Kopf und habe gesehen, dass das gestern ein ganz anderer Marc Marquez war als sonst. Ich kann mich an kein MotoGP-Rennen erinnern, in dem er so sauber gefahren ist, was seinem Fahrstil im übrigen völlig widerspricht. Aber nicht erst seit Sepang war ohnehin jedem klar, welches Spiel Marquez spielt. Doch die Frage muss lauten: Warum macht er das?


Fotostrecke: Die Karriere-Highlights von Jorge Lorenzo

Was hat Marquez davon, seinen Landsmann Lorenzo zum Weltmeister zu machen? Wenn er auf die Sympathie der spanischen Fans gehofft hatte, dann wurde er gestern eines Besseren belehrt. Im eigenen Land auf dem Podium ausgepfiffen zu werden, ist so ziemlich die Höchststrafe. Und wie sehr ihn das verletzt hat, merkte man bei der Pressekonferenz deutlich. Ich glaube hier hat ein junger Mann ein Spiel gespielt, das er nicht zu Ende gedacht hat.

Dass in einer Serie, in der Teamorder ein Fremdwort ist und die für offenes Racing steht, ein solches Eingreifen von den Fans nicht goutiert wird, hatte er offenbar nicht bedacht. Und so entstand ein Makel, der seiner Karriere lange anhaften wird. Er wird ab nun als der Fahrer in Erinnerung bleiben, der sich aktiv in die WM-Entscheidung des Jahres 2015 eingemischt hat.

Und wenn ich Livio Suppo oder Shuhei Nakamoto wäre, würde ich meinem Schützling gehörigst den Marsch blasen. Denn Marquez wird von Honda bezahlt, um Rennen zu gewinnen, und nicht um einen Fahrer einer anderen Marke zum WM-Titel zu verhelfen.

Verlierer Nummer 3: Jorge Lorenzo

Ja, richtig gelesen, auch Jorge Lorenzo ist für mich ein Verlierer. Aber dafür kann er nichts. Er ist Weltmeister des Jahres 2015, und das völlig zurecht. Er hat mehr Rennen als jeder andere Fahrer gewonnen (zur Ergebnisübersicht) und war insgesamt in dieser Saison der schnellste Fahrer. Sportlich ist sein fünfter WM-Titel mehr als verdient. Doch dieser Eindruck verblasst unter den Ereignissen in Schlussphase der Saison.

Jorge Lorenzo

Über Jorge Lorenzos fünftem WM-Titel liegt ein Schatten Zoom

Aktuell ist Lorenzo für viele einfach der Mann, den Marquez zum Weltmeister gemacht hat. Dabei bin ich mir nicht mal sicher, ob Lorenzo diese Schützenhilfe seines Landsmanns überhaupt gebraucht hätte. Oder ob er sie wollte. Natürlich hat er sich durch seinen Antrag, an der Berufungsverhandlung gegen Valentino Rossi vor dem Sportgerichtshof CAS teilzunehmen, auch zum Teil des psychologischen Spiels abseits der Rennstrecke gemacht.

Ob das klug war, mag dahingestellt sein. Am Ausgang hätte es letztendlich, das wissen wir heute, nichts geändert. Abgesehen davon hat Lorenzo das gemacht, was er tun musste: Schnell Motorrad fahren. Und trotzdem wird seinem Titel Nummer drei in der MotoGP wahrscheinlich auf ewig ein Makel anheften.

Und dessen ist sich Lorenzo offenbar bewusst. Sonst hätte er wohl bei der Pressekonferenz nach dem Rennen kaum in fast schon beleidigt wirkender Manier Respekt für seine sportliche Leistung eingefordert. Einerseits rechnet er vor, um wie viel besser er als Rossi war und welches Pech er doch gehabt hätte, sagt aber dann: "Jeder sollte den Endstand in der Weltmeisterschaft akzeptieren." Dann tue das bitte auch selbst, Jorge, denn dort war Rossi eben nur fünf Punkte schlechter als du.

So war #TheGrandFinale unter dem Strich zwar spannend und dramatisch, aber letztlich einer sportlich hochklassigen Saison nicht ganz würdig. Andererseits gab es wohl selten zuvor im Motorsport eine Titelentscheidung, welche die Fans so emotionalisiert und polarisiert hat - was wir auch an einer Vielzahl von Leserkommentaren unter unseren Artikeln gesehen haben, die teilweise von abgrundtiefem Hass geprägt waren.

Und so bleibt für mich am Ende doch ein großer Gewinner dieses großen Finales: Die Zuschauer. Denn sind diese Emotionen, sofern sie nicht in Beleidigungen und verbale Angriffe ausarten, nicht das Salz in der Suppe des Motorsports? Denn egal, zu wem er gehalten hat: Kalt gelassen hat das MotoGP-Finale 2015 wohl niemanden - auch mich nicht. So sehr wie gestern, habe ich lange bei keinem Rennen mehr mitgefiebert. Und das ist es doch, was wir bei diesem tollen Sport letztlich wollen, oder nicht?

Sportliche Grüße


Markus Lüttgens

P.S.: Was haltet ihr vom Finale der MotoGP? Ich freue mich auf Twitter unter @MST_MarkusL auf interessante Diskussionen - und über neuen Follower sowieso.