Kolumne: Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat

Debakel in Barcelona, Sturz in Assen, WM-Führung verloren: Für Maverick Vinales ist es doch nicht so einfach, MotoGP-Weltmeister zu werden

Liebe Leser,

Titel-Bild zur News: Maverick Vinales

Zweiter Rennsturz in diesem Jahr: Vinales verliert in Assen die WM-Führung Zoom

wieder liegt ein extrem abwechslungsreiches und unterhaltsames MotoGP-Wochenende hinter uns. Und dass ausgerechnet Valentino Rossi bei diesen schwierigen Bedingungen gewonnen hat, ist natürlich eine unglaubliche Geschichte. Vor 20 Jahren feierte er seinen ersten Sieg in Assen. Man muss sich einmal vorstellen, wie lange das her ist. 1997 begannen sich langsam Handys zu verbreiten. Smartphones waren noch lange nicht erfunden. Einen privaten Internetanschluss hatten die wenigsten Leute daheim. Heute unvorstellbar.

Dass Rossi immer noch diese Freude und diesen unbändigen Siegeswillen hat, ist schlichtweg beeindruckend. Aber in unserer Montagskolumne wollen wir das Rennen beleuchten und eine Person auswählen, die im übertragenen Sinne schlecht geschlafen hat. Und das kann heute nur Rossis Yamaha-Teamkollege Maverick Vinales sein. Wenn man das Wochenende der beiden vergleicht, kann man gut den Unterschied sehen. Im Freitagstraining war Vinales der Schnellere und auch seine Pace war extrem gut, stärker als von Rossi. Als sich das Wetter am Samstag änderte, qualifizierte sich Vinales nur als Elfter, während Rossi als Vierter in der zweiten Startreihe stand.


Fotos: MotoGP in Assen, Girls


Die gute Ausgangsposition wusste Rossi zu nutzen, während Vinales aufholen musste und in einer großen Kampfgruppe feststeckte. Bis zur elften Runde hatte sich der Spanier auf den fünften Platz nach vorne gearbeitet. In der zwölften Runde stürzte Vinales schlagartig in der Timmer-Bocht-Schikane. Nach dem Debakel in Barcelona setzte es den nächsten Dämpfer für ihn. Die WM-Führung ist Vinales mit diesem Sturz los. Aber es fehlen nur vier Punkte auf Andrea Dovizioso.

Nagen die Rückschläge am Selbstvertrauen?

Rossi hat das ganze Wochenende in Ruhe gearbeitet und wurde belohnt. Vinales hat es selbst vergeigt. Aus anderen Gründen als in Barcelona zeigte sich Vinales wieder komplett ratlos: "Ich kann nicht erklären was passiert ist, weil ich nicht einmal weiß, wie ich gestürzt bin. Ich bin dort 2.000 Mal gefahren und bin nicht gestürzt." Dovizioso und Cal Crutchlow, die direkt hinter Vinales fuhren, vermuteten, dass er den Richtungswechsel zu schnell und zu aggressiv gemacht hat. "Über die Jahre haben wir diesen Sturz an dieser Stelle schon oft gesehen", winkt Crutchlow ab.

Maverick Vinales

Für Maverick Vinales ist der Weg zum WM-Titel kein Spaziergang Zoom

Generell ist Vinales ein Fahrer, der wenig stürzt. Inklusive Trainings ging er in dieser Saison fünfmal zu Boden. Das ist genau so viel wie im gesamten Vorjahr mit der Suzuki! Aber ich möchte auf einen anderen Punkt hinweisen. Die Lockerheit scheint ihm abhanden gekommen zu sein. Am Freitag lächelte Vinales noch nach seiner Bestzeit, aber sonst war sein Ausdruck eher nachdenklich und sorgenvoll. Am Sonntag stand er nach dem Sturz genauso ratlos da wie in Barcelona. In seinem kurzen Interview wiederholte er gebetsmühlenartig, wie stark er sich fühlte und um wie viel schneller er als die anderen Fahrer war.

Ich denke, wir sind uns alle einig, dass Vinales den Speed und das Talent hat, um in den nächsten Jahren mehrfacher Weltmeister zu werden. Aber schon viele Fahrer mussten lernen, dass es noch mehr braucht, um den Titel tatsächlich zu gewinnen. Speziell in so einer verrückten Saison, in der jedes Rennwochenende komplett anders ist. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass mit Dovizioso ein sehr überlegter, analytischer und kontrollierter Fahrer die Weltmeisterschaft anführt.

Vinales wie Marquez 2013

Vinales erinnert mich ein wenig an die Debütsaison von Marquez. Damals hatte der Honda-Fahrer das klare Ziel, von Beginn an Weltmeister zu werden und allen zu beweisen, dass er der schnellste Mann ist. Dieses Ziel hat sich Vinales auch im Winter gesetzt. Schon bei den Wintertests wollte er Bestzeiten fahren, um allen zu zeigen, dass er jetzt der Mann ist, den es zu schlagen gilt. In Katar und Argentinien ist dann auch alles perfekt gelaufen, doch seit dem Sturz in Austin gleicht seine Saison einer Achterbahnfahrt.

Marc Marquez

Marc Marquez hat seine Lektion gelernt und sammelt fleißig WM-Punkte Zoom

Marquez hat 2015 seine Lektion gelernt. Wenn man ihn heute beobachtet, dann ist er ruhig, relaxt und gut gelaunt, obwohl die Ergebnisse alles andere als den Erwartungen eines Marquez entsprechen. Seit seinem WM-Gewinn in Japan hat er nur auf seiner Paradestrecke in Austin gewonnen. Aber mit den Podestplätzen bei schwierigen Bedingungen in Barcelona und Assen hält Marquez seine WM-Chancen am Leben. Und genau solche Ergebnisse musst du an schwierigen Tagen holen, wenn du am Ende Weltmeister werden willst.

Der Punktestand ist für Vinales überhaupt nicht beunruhigend. Die entscheidende Frage ist, ob er diese beiden schlechten Wochenenden mental verdaut. Nach dem Reifendebakel von Barcelona war Vinales vollkommen fertig, aber der anschließende Test hat ihm wieder Auftrieb gegeben. Jetzt war der Sturz ganz klar sein eigener Fehler. Und am nächsten Wochenende wartet der Sachsenring, wo es Vinales in den vergangenen beiden Jahren mit Suzuki nicht in die Top 10 geschafft hat.


Fotos: MotoGP in Assen, Rennen


Ein gutes Ergebnis in Deutschland wird für ihn extrem wichtig sein. Denn sollte es dort wieder nicht klappen, dann könnte Vinales mit vielen Sorgen in die Sommerpause gehen. "In manchen Rennen gewinnt nicht der Schnellste", zeigte er sich gestern Abend doch noch einsichtig. "Wir müssen daraus lernen." Er glaubt aber, dass ihm der entscheidende Fehler am Samstag passiert ist: "Im Qualifying darf man schlechtestenfalls Fünfter oder Sechster werden. Der Fehler passierte gestern, nicht heute."

Auch wenn die Saison bisher sehr unvorhersehbar ist, untermauert die Statistik die These von Vinales. Mit Ausnahme von Dovizioso in Barcelona startete der Sieger immer aus den ersten beiden Reihen. Und der Ducati-Pilot qualifizierte sich bei seinem zweiten Saisonerfolg als Siebter auch relativ weit vorne. Das Qualifying ist also immens wichtig für ein gutes Rennen.

Wer sonst noch schlecht geschlafen hat

Jorge Lorenzo: Der "unterbezahlte" Danilo Petrucci gewinnt fast das Rennen und der Millionenstar ergattert gerade einmal einen Punkt. Dass sich Lorenzo auch noch für einen Flag-to-Flag-Wechsel entschieden hat, ist auch schon egal. In einer aussichtslosen Situation hat er wenigstens etwas probiert. Aber das verärgerte Gesicht von Teammanager Davide Tardozzi, als Lorenzo im nassen Qualifying extrem langsam war, sagt eigentlich alles.

Sam Lowes: Der Motorschaden im Qualifying war natürlich Pech, aber wenn du schon von allen Seiten unter Beschuss stehst und das Team sich nach einem anderen Fahrer umsieht, dann darfst du im Rennen nicht schon wieder stürzen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Lowes auch im nächsten Jahr für Aprilia fahren wird. Es ist absolut verständlich, wenn sich Aprilia um die Dienste von Petrucci bemüht. Er muss sich in der Sommerpause überlegen, ob er weiterhin bei Ducati die dritte Geige hinter Dovizioso und Lorenzo spielen will, oder bei Aprilia eine Führungsrolle übernehmen will.

Ihr,

Gerald Dirnbeck