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  • 01.06.2016 14:25

  • von Ben Anderson (Haymarket) & Dominik Sharaf

Gretchenfrage Speed: Muss die Formel 1 schneller werden?

Die Regeln 2017 versprechen schnellere Boliden, doch zwei Probleme sind nicht gelöst: Überholen ist nicht einfacher und die Herausforderung für die Piloten fehlt

(Motorsport-Total.com) - Die Formel 1 ist die schnellste Rennserie der Welt - dieses Prestige wollen nicht nur Piloten und Teams wahren, sondern auch die Verantwortlichen. Über die Notwendigkeit, in der Causa Tempo zuzulegen, streiten sich aber die Gelehrten. Während die Aktiven natürlicherweise mehr Speed und mehr Grip wünschen, werden Kritiker unter ihnen laut, die um letzte Überholchancen fürchten. Andere wollen eine fahrerische Herausforderung. Und viele schwärmen von der MotoGP. Ein Stimmungsbild.

Titel-Bild zur News: Lewis Hamilton

Tempo pur: Das muss im Fernsehen nicht unbedingt ein Genuss sein Zoom

Wie ernst ist die Lage wirklich? Eine Studie belegte jüngst, dass die Königsklasse noch immer mindestens fünf Prozent schneller ist als die Nummer zwei der Rangliste der Serien - nämlich die japanische Super Formula (ehemals Formel Nippon). Trotzdem will die Formel 1 ihren Kritikern, die ihr eine zu geringe Differenz zur GP2 zum Vorwurf machen, antworten. Die Aerodynamikregeln 2017 wurden so entworfen, dass die Rundenzeiten "um einige Sekunden" fallen sollen.

McLaren-Geschäftsführer Jonathan Neale argumentiert: "Wir müssen jedem vor Augen führen, wie viel Talent, Fähigkeit, Fitness, Konzentration und Disziplin es braucht, um das Auto auch nur auf der Bahn zu halten." Er hofft, dass sich mit den neuen Bestimmungen, an denen sein Arbeitgeber maßgeblichen Anteil hatte, der Einfluss von Antriebsstrang und Chassis auf die Gesamtleistung des Fahrzeugs angleicht und die Autos schwieriger zu fahren sind: "Die Autos müssen extremer sein."

Rutschen, Rutschern, Kurbeln: Formel 1 muss nach Arbeit aussehen

Mit "extremer" meint Neale Boliden, die stärker verzögern, schneller beschleunigen, mehr Power haben und fixer durch die Kurven sausen. "Es darf im Sport keinen Platz dafür geben, um sich um irgendetwas anders zu kümmern als um die Reifen. Es muss wieder einen Sprint geben, keinen Spaziergang." Die Äußerungen bedeuten eine Infragestellung der gesamten Effizienzformel, die seit Einführung der Hybridmotoren in der Saison 2014 die Beletage des Motorsports prägt.

Den Rundenzeiten ist sie aber gar nicht abträglich: Lewis Hamilton schlug erst im Qualifying in Bahrain Michael Schumachers Streckenrekord, datierend aus dem V10-Jahr 2004 - und zwar um mehr als sechs Zehntelsekunden. Das Problem ist eher, dass die Piloten in den Rennen vom Gas gehen müssen. Die Pneus überhitzen zu schnell und bauen ab. Die Autos sind auch noch schwerer, weil sie mit einer Tankfüllung über die Renndistanz kommen müssen - ein Teufelskreis.


Fotostrecke: Designstudie: Formel-1-Regeln 2017

Vielen ist es außerdem ein Dorn im Auge, dass die Formel 1 im Fernsehen nicht mehr spektakulär wirkt. Die Autos kleben am Boden und fahren wie auf Schienen. "Leider sind die Autos verdammt gut... verdammt zu gut", erklärt Williams' Technikdinosaurier Pat Symonds. Obwohl es unglaublich schwierig ist, alles herauszuquetschen, merkt es am Bildschirm kein Mensch. Dauerndes Nörgeln schmeckt aber auch Symonds nicht: "Zu viele Leute bringen immer die gleiche Leier vor und reden von der Vergangenheit. Aber man hat damals gesehen, dass die Jungs am Lenkrad arbeiteten."

Geerbter Nimbus bringt die Serie in die Zwickmühle

Die Krux: Nur "schlechte" Autos zwingen den Piloten am Volant zu ackern. Das wiederum ist aber nicht schnell, wenn es um die Rundenzeiten geht. Trotzdem plädiert Symonds für mehr Leistung und wünscht sich höhere G-Kräfte sowie Topspeeds. "Wir müssen ja gar nicht überall die absolute Nummer eins sein. Ein LMP1-Auto ist schneller, wenn die Gerade lang genug ist. Aber alles in allem muss man behaupten dürfen: 'Das ist die ultimative Leistung, die ein Auto bringen kann!'"

Die Formel 1 scheint am Scheideweg: Purer Speed und technisches Genie im Stile eines Adrian Newey, das sich ohne das Korsett des Reglements verwirklichen lässt? Oder Autos mit wenig Grip wie früher, die das Fahren wieder zur Herausforderung machen? Eine eindeutige Antwort auf diese Gretchenfrage sucht man im Paddock vergeblich.

Mercedes-Technikchef Paddy Lowe befürchtet, die Serie könnte ihren Nimbus verlieren, wenn sie nicht mehr schnell ist - und verdeutlicht einmal mehr die Zwickmühle. "Aber genauso wollen wir nicht zu schnell werden, weil dann etwas von dem Spektakel verloren ginge und das Überholen zu schwierig würde." Breitere Strecken wären eine Möglichkeit, Abhilfe zu schaffen, doch das würde die Tribünen weiter von den Autos entfernen und das TV-Erlebnis Formel 1 weiter verwässern.

Ist das Vorbild MotoGP der Heilsbringer?

"Wenn man Rennen fahren will, braucht man Leistung, die sich in einem gewissen Rahmen bewegt. Den haben wir geschaffen", sagt Lowe und sieht Luft nach oben, wenn es um das Problem geht, Konkurrenten hinterherzufahren, ohne massiv Leistung einzubüßen. "Wir hängen am Tropf der Aerodynamik, das macht Überholen schwierig." DRS sei eine Abhilfe gewesen, hätte aber Kritiker auf den Plan gerufen. Zu künstlich! Lowe findet den umklappbaren Heckflügel "in Ordnung".

Es hat sich gezeigt: Die Formel 1 wird dann lebendig, wenn Elemente, die die Autos komfortabler machen, verschwinden. Dazu gehören Streckenoberflächen mit wenig Grip, Wetterkapriolen, miese Abstimmungen und Reifenmischungen, die unberechenbar sind. Doch man muss sich nicht auf den Zufall verlassen, damit sie auf das Renngeschehen einwirken. "Die MotoGP ist dafür ein gutes Beispiel", sagt Pirelli-Sportchef Paul Hembery. "Die Motorräder sind fast eine halbe Minute pro Runde langsamer, aber ich höre nicht, dass irgendwer sich über Langeweile mokieren würde."

Valentino Rossi

Die MotoGP ist langsamer als die Formel 1, aber es lässt sich überholen Zoom

Der Brite glaubt, dass die MotoGP viel mehr Fans hätte als diejenigen, die sich für Zweiräder an sich interessieren. "Weil der Sport spannend ist, es Überholmanöver gibt und der menschliche Einfluss erkennbar ist. Tempo alleine ist nicht der entscheidende Faktor", stellt Hembery fest.

Die Formel 1 hat mit ihrem 2017er Reglement einen anderen Weg eingeschlagen. Sie setzt voll auf Geschwindigkeit, allen voran über die Aerodynamik. Pirelli muss mit den entsprechenden Reifen mitziehen. Doch das hat Auswirkungen auf andere Bereiche - wie die Piloten in diesen Tagen so häufig anmahnen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass es Speed im Motorsport nicht kostenlos gibt.