Gigantismus pur: In Chinas Megacity sind nicht nur die Staus riesig, sondern auch die Zensurgelüste der Behörden
Nicht der beliebteste Grand-Prix-Schauplatz, aber einer, auf den vielen nicht verzichten wollen und können: Die Rede ist von China, wo die Formel 1 seit zwölf Jahren auf dem International Circuit vor den Toren Schanghais gastiert. Für Autokonzerne geht es um Präsenz auf dem Wachstumsmarkt und für die Gastgeber um puren Gigantismus.
In der 24,1-Millionen-Einwohner-Megacity regiert der Größenwahn. Die Einkaufszentren der vor allem von chinesischen Touristen bevölkerten Stadt sind kaum zu zählen und sprengen - jedes für sich - die Dimensionen europäischer Shoppingmeilen. "Ich bin Moskau gewöhnt, aber selbst das ist kein Vergleich", sagt Daniil Kwjat (Red Bull).
Ein Dauerproblem in China ist die Visapolitik. Viele Formel-1-Journalisten sind genervt, weil die Behörden Medienvertreter nur nach endlosem Papierkrieg ins Land lassen - selbst, wenn sie nur Urlaub machen wollen. Nervig: Sämtliche Google-Dienste, Facebook und Twitter werden von der staatlichen Zensur geblockt.
Entschädigt wird der China-Besucher durch kulinarische Vielfalt im Reich der Mitte. "Wir gehen immer einmal essen, auch um die Skyline zu sehen", sagt Daniel Ricciardo (Red Bull). "Alles ist würzig und scharf, was ich sehr mag. Da gab es schon Rippchen... fantastisch! Und dann kommt eine Suppe oder Gemüse, das unter Chili begraben ist."
Nach kilometerlangen Staus auf dem Weg an die Rennstrecke, die in einem Industriegebiet vor der Stadtgrenze liegt, geht der Gigantismus weiter: Das Paddock ist so groß, dass die Hospitalitys der Teams längere Fußmärsche voneinander trennen. Die meisten Fahrer verwenden daher einen Roller, um von A nach B zu kommen.
Nico Hülkenberg (Force India) kommt die Architektur der in einer Sumpflandschaft errichteten Anlage in den Kopf: "Ich denke immer an die beeindruckenden Türme auf der Zielgeraden und die coolen Fahrerlager-Gebäude am See." Die Strecke ist 5,451 Kilometern lang, sie konstruierte der Aachener Streckenarchitekt Hermann Tilke.
Charakteristikum Nummer eins: die so genannte "Schnecke". "Eine nie enden wollende Kurve", sagt Hülkenberg über eine beim Start crashgefährdete Stelle. "Eine schwierige, weil man sie schnell übermotiviert angeht." Sergio Perez findet, dass das Pilotenherz frohlocken würde: "Für jeden der Lieblingsteil der Strecke", so der Mexikaner.
Die "Schneckenkurve" gilt in der Szene als Prüfstein für die Güteklasse der Piloten."Es ist eine sehr ungewöhnliche Kurve, in der man seinen Speed genau einschätzen muss", so Perez. "Man kann sehr viel Zeit verlieren, wenn man sie nicht genug attackiert." Fernando Alonso (McLaren) weiß: "Der Kurs ist angenehm zu fahren und macht Spaß."
Der Rest der Runde mit sieben Links- und neun Rechtskurven präsentiert sich als ausgewogner Mix aus langsamen bis Höchstgeschwindigkeits-Kurven. Das macht das Setup zur kniffligen Aufgabe. Weiteres Problem: Der Reifenverschleiß ist hoch - bei niedrigen Temperaturen nur auf der Vorderachse, bei Hitze auch hinten.
Beste Überholmöglichkeit ist die 1,3 Kilometer lange Gegengerade, an deren Ende ohne den Einsatz von DRS bis zu 310 km/h erreicht werden, im Windschatten auch mehr. Deshalb gab es in den Qualifyings früher schon Tandems, bei denen sich die Teamkollegen zugunsten einiger Zeitspähnchen "zogen".
Valtteri Bottas (Williams) unterstreicht: "Dort kann man wirklich gut überholen." Weil anschließend ein harter Bremspunkt für eine enge Haarnadel folgt, war die Stelle am Ende der Gegengeraden öfters Schauplatz für heftige (Auffahr-)Unfälle - und eine Gelegenheit, in heißen Beschleunigungsrennen Konter zu setzen.
Ein Unikum in China sind die Fans: "Viele warten den ganzen Tag vor dem Hotel und haben immer viele Geschenke für mich und meine Familie dabei", berichtet Felipe Massa (Williams). Erklärter Publikumsliebling ist Kimi Räikkönen, der ohne Personenschutz in Schanghai nicht das Hotel verlassen kann.
Dennoch: Die Zuschauerzahlen lassen zu wünschen übrig. In China gibt es keine Motorsportkultur und die Anlage ist gemessen am Interesse der Bevölkerung völlig überdimensioniert.
Für Mercedes war Schanghai immer ein gutes Pflaster: Nico Rosberg glückte 2012 der erste Silberpfeil-Sieg nach dem Comeback als Werksteam, darüber hinaus sein erster in der Formel 1. Der Deutsche ist damit einer von nur zwei Nicht-Weltmeistern, die ein Rennen in China gewannen - neben Rubens Barichello (2004 für Ferrari).
Gigantismus pur: In Chinas Megacity sind nicht nur die Staus riesig, sondern auch die Zensurgelüste der Behörden