Die Strecke in Aserbaidschan scheidet die Geister: Es geht um Gefahr für Leib und Leben, um Temporekorde und Staugefahr
Mit dem Europa-Grand-Prix in Aserbaidschan erobert die Formel 1 2016 Neuland: Das Rennen in der 9,5 Millionen Einwohner zählenden Ex-Sowjetrepublik am Kaspischen Meer ist das erste in der Region und dem Handel mit Rohöl zu verdanken, der das Land reich gemacht hat. Jetzt drängt es mit Großveranstaltungen auf die Weltbühne.
Das Problem: Mit den Menschen- und Bürgerrechten nimmt es das autokratische Regime nicht so genau. Dass in der jüngeren Vergangenheit Journalisten und Blogger wegen angeblicher Drogendelikte und wegen Waffenbesitzes inhaftiert wurden, führt zu einer weitgehenden Selbstzensur in der Presse.
Nach dem Eurovision Song Contest und dem Europaspielen erhält die Formel 1 in der Hauptstadt einen spektakulären Schauplatz. Der Baku City Circuit aus der Feder des Aacheners Hermann Tilke ist mit 6,003 Kilometern nicht nur die zweitlängste Strecke im Kalender, sondern auch eine der schnellsten und der engsten Bahnen.
Motorsport gab es in Baku schon: "Mein Papa ist 2012 ein Rennen gefahren, ich habe es im Internet geguckt", erinnert sich Max Verstappen (Red Bull) an den Ausflug seines Vaters Jos, der mit Jacques Villeneuve an der "Baku City Challenge" für GT-Autos teilnahm. Auf einer Strecke, die 2,144 Kilometer kurz und lächerlich schmal war.
Fernando Alonso (McLaren), Botschafter des Grand Prix', freut sich, nach Monaco und Singapur sowie mit Abstrichen Melbourne und Montreal den nächsten Straßenkurs zu fahren: "Das Layout ist ein beeindruckender Mix: ein enger Straßenkurs und eine klassische Bahn mit hohem Tempo und soliden Überholmöglichkeiten."
Die Piloten erwarten eine Herausforderung. Nico Rosberg (Mercedes) erklärt: "Ich hoffe, dass die Simulation nicht sehr akkurat ist. Einige Kurven fühlten sich merkwürdig an. Auch Kimi Räikkönen fürchtet eine "knifflige Bahn". Nur Sergio Perez (Force India) freut sich: "So sollte die Formel 1 sein: kein Spielraum für Fehler."
Obwohl seitens des Sportministers vorgegeben war, möglichst viele Sehenswürdigkeiten in der mittelalterlichen Altstadt und der Umgebung in Szene zu setzen, setzte Tilke einen Parcours mit acht Rechts- und zwölf Linkskurven um. Atemberaubend: In der Spitze sollen die Formel-1-Boliden bis zu 340 km/h erreichen.
Möglich macht das eine 2,1 Kilometer lange Start- und Zielgerade. "Vielleicht kann man eine kleine Schikane einbauen", scherzt der von PS-Defiziten geplagte Daniil Kwjat (Toro Rosso) und meint schmunzelnd: "Wir müssen nur Fahrer dazu bringen, sich über die Sicherheit zu beschweren." Und das tun sie bereits.
Rosberg schimpft über die Auslaufzonen: "Zwei oder drei sehen nicht gut aus. Vor Kurve 15 fährst du direkt auf eine Mauer zu." Und auch bei Jenson Button (McLaren) schrillen die Alarmglocken: "Wir haben so hart an der Sicherheit gearbeitet, verbessern die Rennstrecken. Dann kommen wir hierher..."
Im Paddock sind sich die Protagonisten nicht einig: Sebastian Vettel (Ferrari) ist "glücklicher, wenn die Mauer nahe an der Strecke steht als wenn es eine Auslaufzone gibt". Flächen und Reifenstapel können auch neue Gefahren bedeuten, weiß der Hesse. Zumal in Baku Styropor zur Stoßdämpfung eingesetzt wird.
"Ich verstehe die Fragen nicht", wundert sich Vettel. "Ich bin die Strecke abgelaufen - sie sieht spannend aus." Auch Perez winkt ab: "Es ist nicht die gefährlichste, aber die anspruchsvollste Strecke. Wenn man crasht, verliert man nicht ein paar Sekunden, man scheidet aus." Alonso fügt hinzu: "Besser als in Monaco ist es allemal."
Nach der langen Geraden folgen vier 90-Grad-Kurven und eine Schikane, ehe es im Mittelabschnitt durch die mittelalterliche Altstadt geht. Es wird nicht nur enorm steil, sondern auch extrem eng. "Wenn es in Kurve 8 oder 9 einen Unfall gibt, wird es richtig schwierig, da vorbeizukommen", sagt Pascal Wehrlein (Manor).
"Sieht toll, es gibt Höhenunterschiede. Die Passage ab Kurve 8 ist extrem spannend", ergänzt Vettel. Er schaute sich jede Sequenz in der Hocke an - um zu sehen, wie viel aus dem Cockpit zu erkennen ist. Fazit: wenig bis gar nichts. "Zwischen Kurve 10 und 11 gibt es einen Scheitelpunkt, der nicht einsehbar ist. Da fährst du blind."
Nach dem Geschlängel wird voll beschleunigt. Die Kurve 13 sowie 14 - zwei leichte Linksknicks - stehen an. "Man fährt 200 km/h und die Kurve wird enger und enger", beschreibt Wehrlein die nächste Herzschlag-Kombination, nach der für zwei weitere 90-Grad-Kurven runtergebremst wird. Er fühlt sich an Macau erinnert.
Die besagte lange Gerade beginnt mit zwei langgezogenen Kurven, die die Piloten wohl mit Vollgas durchfahren werden: "Wenn die Mauer die Scheitelpunkte markieren würde und es keine Randsteine gäbe, wären die Kurven noch viel schneller und würden mehr Spaß machen", sagt Daniel Ricciardo (Red Bull).
Das Bodenblech will der Australier trotzdem ausbeulen, sich aber von unten an das Limit rantasten: "Die gehen voll! Aber mein Ingenieur riet mir, ich sollte in der ersten Runde besser nicht das Gaspedal treten." Wenn er seinen Red Bull heil durch die Kombination gebracht hat, ist eine Runde in Aserbaidschan beendet.
Stopp! Nicht ganz. Es gibt noch eine Hürde zu meistern. Ricciardo: "An der Boxeneinfahrt kann man immer etwas Zeit gutmachen. Hier ganz besonders. Es lässt sich eine halbe, wenn nicht eine ganze Sekunde verlieren - oder gewinnen. Man crasht oder man verliert viel."
Pirelli bringt mit Ultrasoft, Supersoft und Soft die weichsten Mischungen nach Baku. Kein Wunder, denn für den Grand Prix wurde ein frisches Asphaltband verlegt und historisches Kopfsteinplaster temporär überdeckt. "Der Asphalt ist sehr glatt und sieht ähnlich aus wie der in Sotschi", vermutet Wehrlein wenig Reifenverschleiß.
Bei der Abstimmung sind Kompromisse gefragt - aus viel Abtrieb für die engen, langsamen Abschnitte und wenig Downforce für die lange Gerade.
Nur 28.000 Zuschauer finden an der Strecke Platz, was der Formel 1 einen historischen Minusrekord bescheren könnte. Die geringste Kapazität einer Anlage ist Baku bereits nicht mehr zu nehmen.
Die Strecke in Aserbaidschan scheidet die Geister: Es geht um Gefahr für Leib und Leben, um Temporekorde und Staugefahr