Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat: Ayhancan Güven
War die unfassbar spannende DTM-Titelentscheidung ein Skandal? Wieso Ayhancan Güven ein verdienter Meister ist und die Kritik an seinen Manövern überzogen ist
Liebe Leserinnen und Leser,
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Ein Rowdy als neuer DTM-Champion? Güvens Aktionen beim Finale waren nicht unumstritten Zoom
nach dem Saisonfinale schläft in gewohnter Manier bei uns niemand schlecht, dafür steht der neue Meister im Vordergrund. Und Hand aufs Herz: So eine spektakuläre Titelentscheidung wie dieses Wochenende in der DTM habe ich in fast 40 Jahren Motorsport nicht gesehen. Vielleicht war nur das Formel-1-Finale in Abu Dhabi 2021 vergleichbar. Oder Brasilien 2008, als Felipe Massa schon Champion war und dann doch Lewis Hamilton jubeln durfte.
Die DTM hat nun mit Ayhancan Güven einen neuen Champion, mit dem keiner gerechnet hat. Vor dem Wochenende lag der 27-jährige Türke nur auf Platz fünf der Gesamtwertung - mit 17 Punkten Rückstand. Und jetzt - nach seinem sensationellen Sprung ganz nach vorne - gehen die Emotionen auf Social Media hoch! Von einer "Rüpelaktion" am Ende gegen Marco Wittmann ist die Rede, die "nichts mit fairem Sport zu tun" habe.
Aber auch das Manöver gegen Rene Rast in der ersten Runde wurde als "jenseits der Legalität" bezeichnet. "Dieser Porsche-Idiot hat Rene die Meisterschaft zerstört". Und man liest sogar: "Der unverdienteste Meister, den ich den vielen Jahren gesehen habe. Nur mit Glück und Rambo-Methoden zum Sieg gekommen." Schuld sei die Rennleitung, die alles durchgehen lasse.
Wieso soll Güven Schuld an Rasts Ausfall sein?
Jetzt mal ehrlich: Ja, Güvens Manöver gegen Rast war sehr hart. Aber der BMW war so schnell, dass ihn der Manthey-Pilot niemals hätte halten können. Dass Güven nach dem verlorenen Beschleunigungsduell in der Parabolica so spät wie möglich bremst und noch innen reinsticht, um nach der Spitzkehre vorne zu sein, ist klar.
Denn die Leistung des Porsche wurde vor dem Rennen durch die Restriktoränderung um zwei Millimeter gedrosselt, während der BMW auf den Geraden flog. Und die Bremse ist die stärkste Waffe des 911 GT3 R. Güven hat dabei Rast nicht von der Strecke gedrückt - beide Autos waren stets innerhalb der weißen Linien. Wieso also eine Strafe?
Rast schied aus, weil Jules Gounon den Ferrari von Ben Green in das rechte Hinterrad des BMW schob, der sich dann eindrehte. Und als der dreimalige Champion dann aufs Gas stieg, fuhr er Thierry Vermeulen ins Auto, wodurch die rechte Vorderrad-Aufhängung brach. Das war einfach enormes Pech - aber nicht Güvens Schuld.
Güvens Reaktion auf Rast-Kritik: "Rene bleibt mein Held"
Dass Rast zynisch klatschte, um Güven für die Aktion zu gratulieren, ist im Ärger absolut verständlich. Zumal der Schubert-BMW-Pilot schon am Samstag am Funk wegen Güven explodiert war, weil der ihn im Regen im ausgangs der Mercedes-Arena von der Strecke schickte, wofür Güven nur verwarnt wurde.
Dennoch sagt "Can", wie ihn alle nennen, nach dem Rennen: "Rene bleibt mein Held. Als ich auf dem Norisring 2022 mit dem Gaststart mein DTM-Debüt gegeben habe, da bin ich zu ihm hin und habe ein Selfie gemacht."
Eines ist aber auch klar: Rast hätte das Rennen ohne den Zwischenfall ziemlich sicher gewonnen und seinen Abschied mit dem vierten Titel gekrönt. Das beweist Wittmanns beeindruckende Aufholjagd von Platz 17 auf Rang zwei. Wie er in der letzten Runde auch noch an Güven vorbeiging, war Spitzenklasse.
"Rambo-Manöver" gegen Wittmann?
Güven drohte der Titel nun doch noch durch die Finger zu rinnen, denn durch die schwarze Flagge für Jack Aitken und Jordan Pepper wäre Lucas Auer Champion gewesen. Aber auch mit der entscheidenden Aktion, das viele als "Rambo-Manöver" bezeichnen, hat er unter Hochdruck bewiesen, dass er ein Killer ist.
Zuerst täuscht er rechts an - wodurch Wittmann abdeckt und innen leicht aufmacht. Eine Aktion, die er sich von seinem Teamkollegen Thomas Preining abgeschaut haben könnte. Güven wusste: Wenn ich da nicht reinsteche, ist der Titel weg! Er tat es mit der Brechstange. Hat er neben der Strecke überholt? Ja, Güvens Porsche war am Eingang der Sachskurve ganz klar im Gras.
Reglement: Güven hat die Rennstrecke nicht verlassen
Die Sportkommissare orteten bei Wittmann aber ein "Moving under Braking", wodurch Güven überhaupt erst dort hingezwungen wurde, abgesehen davon waren zwei Räder immer auf der Strecke. Und Artikel 30.5 des Reglements besagt: "Befindet sich ein Fahrzeug mit allen vier Rädern außerhalb der weißen Linien, gilt dieses grundsätzlich als Verlassen der Rennstrecke."
Das war hier nicht der Fall. Klar, die Aktion war ruppig, aber wollen wir nicht gerade in der DTM Manöver am absoluten Limit sehen, die vier Kurven vor Schluss die Entscheidung bringen anstatt von Titelentscheidungen am grünen Tisch? Durch Piloten mit echten "Streetfighter"-Qualitäten?
Niemand siegte bisher in einer Saison so oft
Abgesehen davon hat Güven den Titel nicht durch die zwei Aktionen geholt, sondern mit insgesamt fünf Saisonsiegen. Das gelang in der GT3-Ära der DTM noch niemandem. Stattdessen kam bisher noch niemand über drei Saisonsiege hinaus. Die fünf Triumphe waren zum Teil auch darauf zurückzuführen, dass die Konkurrenz patzte.
Auf dem Sachsenring, wo der Porsche durch die Balance of Performance sehr gut eingestuft war, passierten ausgerechnet Teamkollege Thomas Preining zwei schwere Fehler, wodurch Güven zweimal zuschlug und siegte. Aber gehört es nicht auch zu den Qualitäten eines Champions, cool zu bleiben und dann die entscheidenden Chancen zu nutzen?
Davor lag Güven ausgerechnet beim Manthey-Heimspiel auf dem Nürburgring als Achter in der Meisterschaft schon 46 Punkte zurück, doch dann war er vielleicht der Einzige, der im Titel-Endspurt einen kühlen Kopf bewahrte. Nach dem Wochenende fehlten nur noch sechs Punkte auf die Spitze.
Güven fuhr gegen Norris und für Verstappen
Genau diese Coolness ist eine Stärke des in Stuttgart lebenden Mannes aus Istanbul, der sich mit Hilfe seiner Familie alles im Motorsport hart erarbeitet hat und gut mit Druck klarkommt, wie Kenner sagen.
Der 27-Jährige stammt aus einer Nation ohne Motorsportkultur und musste nach den Anfangstagen im Kart, in denen er gegen Leute wie Lando Norris fuhr, zwischen 12 und 17 Jahren pausieren - und wurde einer der besten Sim-Racer, fuhr sogar für Max Verstappens Redline-Team.
© Alexander Trienitz
Ayhancan Güven war nach dem Sieg von den Emotionen komplett überwältigt Zoom
Erst dann arbeitete sich Güven, der von Red Bull unterstützt wird, über die Porsche-Markenpokale zu Manthey und in die DTM, wo er nach einem schwierigen ersten Jahr erst 2025 beim DTM-Auftakt in Oschersleben seinen ersten Sieg feierte.
Ist der DTM-Titel nur der Anfang?
Auch beim wichtigsten Rennen seines Lebens war Güven, wie er selber sagt, "überhaupt nicht nervös, weil ich gar keine Zeit hatte zum Nachdenken. Ich war komplett im Tunnel." Erst danach überwältigten ihn die Emotionen. Und spätestens nach dem filmreifen Finale kennt ihn in der Türkei jeder.
Man darf gespannt, wohin sein Weg führt. Denn Güven, dessen Vater nach wie vor immer dabei ist, gilt auch als harter und wissbegieriger Arbeiter, der zuletzt beim Formel-E-Rookietest im Porsche Zweiter wurde und Formel-2-Stars wie den scheidenden McLaren-Youngster Alex Dunne hinter sich ließ. Vielleicht ist der DTM-Titel für ihn nur der Anfang.


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