• 14.12.2016 12:47

  • von Roman Wittemeier

Gewagte WEC-Thesen 2016: Das sagen die Experten

Hat das Toyota-Drama der WEC geholfen? Ist das Segeln in der LMP1 eine Gefahr? Ist der Diesel im Rennsport endgültig tot? Das sagen Experten zu den Themen

(Motorsport-Total.com) - Die Saison 2016 in der Langstrecken-Weltmeisterschaft (WEC) hat zahlreiche sportliche Höhepunkte beschert, die teils mit großen Emotionen behaftet waren. Das Toyota-Drama in Le Mans bleibt unvergessen. Im Rahmen unseres Jahresrückblicks greifen wir noch einmal fünf wichtige WEC-Themen aus den Bereichen Sport, Technik, Reglement und Finanzen auf.

Titel-Bild zur News: Dominik Kraihamer

Mehr Tempo am Ende der Geraden: Fahren die Privaten auf die Werksautos auf? Zoom

'Motorsport-Total.com' hat fünf Experten aus der WEC mit fünf gewagten Thesen konfrontiert. Die Sportchefs Rob Leupen (Toyota), Stefan Dreyer (Audi) und Fritz Enzinger (Porsche) haben als Herstellervertreter eine andere Perspektive als Boris Bermes (ByKolles), der die Sicht eines Privatteams schildert. Weltmeister und Le-Mans-Sieger Neel Jani (Porsche) hat zu zwei Themenkomplexen als Fahrer seine ganz eigene Sicht.

These #1: Das Le-Mans-Drama 2016 von Toyota hat der gesamten Langstreckenzene geholfen

Rob Leupen (TMG-Geschäftsführer): "Es hat auf jeden Fall für ein überproportionales Interesse gesorgt. Es war echtes Drama. Man muss sich mal anschauen, was nach dem Ende des Rennens bei Twitter und Co. los war. Das Feedback war unglaublich. Insgesamt hat es gezeigt, wie extrem spannend und fesselnd Langstreckenrennen sind. Das müsste eigentlich dazu führen, dass auch in Le Mans 2017 das Interesse entsprechend hoch ist, auch wenn der Audi-Ausstieg es vielleicht wieder etwas runterzieht."

"Ich denke, dass dieses Le-Mans-Drama und das damit verbundene Interesse in der Öffentlichkeit auch einen positiven Abstrahleffekt auf die gesamte WEC hat. Weitere spannende Rennen haben wir in Fuji und Schanghai erlebt, am Nürburgring haben es sich Porsche und Audi ordentlich gegeben. Da waren wir leider nicht bei der Musik dabei. Ich bin überzeugt, dass der Rennsport in der WEC generell sehr gut ist. Das wird hoffentlich wahrgenommen, wenn die Szene durch die Geschehnisse in Le Mans im Fokus ist."

Stefan Dreyer (Audi-LMP1-Leiter): "Von 'geholfen' würde ich hier nicht sprechen. Für mich hat es nur wieder einmal gezeigt, wie bitter und hart Le Mans sein kann. Ein Fahrer hat einmal gesagt, dass das Rennen einen gewinnen lässt. Genau daran habe ich gedacht. Ich erinnere mich noch gut an den Moment, in dem es passiert ist. Das hat mich emotional berührt. Ich bleibe dabei: Toyota war in diesem Rennen der Sieger der Herzen."

Fritz Enzinger (Porsche-LMP1-Leiter): "Durch das Drama gab es so viele Berichte in Medien, die sonst gar nicht über das Rennen berichten würden, oder die höchstens bei einem normalen Rennverlauf das Ergebnis abgebildet hätten. Le Mans hat dadurch noch einmal einen ganz besonderen Schub bekommen. So leid es mir für die Kollegen von Toyota auch tut, aber diese Geschehnisse haben allen Beteiligten in der Le-Mans-Szene unwahrscheinlich viel zusätzliche Aufmerksamkeit beschert."


Fotos: FIA-Preisverleihung in Wien


Boris Bermes (Einsatzleiter ByKolles): "Die Tragik und Dramatik hat in allererster Linie das Image von Le Mans weiter gefestigt. 'Le Mans ist Le Mans' oder 'Le Mans gewinnst du nicht, Le Mans lässt dich gewinnen' - wir kennen alle diese Sprichwörter. Dies wurde wieder bestätigt, der Mythos Le Mans somit gepflegt. Ob dies aber Auswirkungen auf die gesamte Langstreckenszene hatte? Ich glaube nicht, dass die WEC-Rennen in Bahrain oder Schanghai dadurch mehr Aufmerksamkeit erfahren. Leider nicht."

Neel Jani (Weltmeister und Le-Mans-Sieger 2016): "Alles, was polarisiert, ist gut. Sport ist dafür da, um Geschichten und Dramen zu schreiben. Genau das ist passiert. Wenn Hamilton in Abu Dhabi nicht so gefahren wäre, dann hätte es kaum Diskussionen gegeben. Es ist eben so. Wenn etwas im Sport polarisiert, dann zieht es die Leute an."

These #2: 1.000 PS, aber kaum Topspeed am Ende der Geraden: In der LMP1 wird zu viel gesegelt

Fritz Enzinger (Porsche-LMP1-Leiter): "Segeln ist kundenrelevant! Guter Satz, oder? (lacht) Aber ernsthaft: Wenn ich auf die Topspeeds schaue und die privaten Teams vorn sehe, dann muss ich schmunzeln. Breit grinsen muss ich dann aber, wenn ich die Rundenzeiten sehe."

Rob Leupen (TMG-Geschäftsführer): "Der Topspeed eines Werks-LMP1 in Le Mans 2016 lag bei 343 km/h. Das ist eine ordentliche Nummer, wie ich finde. Ich denke nicht, dass zu viel gesegelt wird. Es gibt spektakulären Sport, wobei es nicht nur um den Topspeed geht. Wenn wir in Le Mans mittlerweile Rundenzeiten von unter 3:20 Minuten fahren, dann muss aus Sicherheitsgründen an irgendeiner Stelle zurückgeregelt werden."

"Man muss sich halt entscheiden: absolut hoher Topspeed oder richtig gute Rundenzeiten. Die maximalen Höchstgeschwindigkeiten kann man heutzutage nur noch bei Rekordversuchen oder beim Dragracing sehen. Wir werden weiterhin bei Werten um die 340 km/h bleiben. Das finde ich gut. Solche Rekord-Topspeeds in Le Mans, die damals mal bei über 400 km/h lagen, wird man bestimmt nie wieder dort sehen."

Stefan Dreyer (Audi-LMP1-Leiter): "Das alles ist erst seit den sogenannten Betriebsstrategien ein Thema. Die Betriebsstrategien gibt es in dieser Form erst seit Einführung des Effizienzreglements zur Saison 2014. Seither müssen die Ingenieure damit umgehen, das ist die neue Herausforderung. Man muss so effizient und schnell wie möglich eine Runde bewältigen. Das Resultat ist, dass die Topspeeds nicht mehr so hoch sind. Der Rennsport ist aber klasse mit konzeptbedingten Überholmanövern, die ohne jegliche künstliche Hilfsmittel wie zum Beispiel DRS entstehen. Da wird sauber überholt."

Boris Bermes (Einsatzleiter ByKolles): "Die Sicht der Hersteller ist diesbezüglich eine andere als meine, weil ich ein Privatteam vertrete. Lift&Coast gehört heutzutage zum Rennsport mit moderner Hybridtechnologie dazu. Auf der anderen Seite ist es rein sportlich manchmal schwierig zu greifen ist. Vor allem die Fans können das kaum verstehen, dass die Fahrer in den schnellsten Autos am Ende der Geraden vom Gas gehen."

Timo Bernhard, Mark Webber

Auf den langen Geraden kommen die Privaten am Ende wieder näher Zoom

"Generell ist klar, dass sich die LMP1-Hybridautos die mächtige Power, die sie am Kurvenausgang freisetzen, irgendwo reinholen müssen. Und das passiert eben beim Segeln, um die Energienutzung möglichst effizient zu gestalten. Durch Änderungen im Reglement werden die LMP2-Autos 2017 um einiges schneller auf den Geraden. Die Piloten der Hybridfahrzeuge werden bei der großen Anzahl von LMP2-Autos immer wieder beim Überrunden auf den Geraden brisante Situationen erleben."

Neel Jani (Weltmeister und Le-Mans-Sieger 2016): "Aus meiner Sicht ist es eine gefährliche Entwicklung. Wir überholen die privaten LMP1 und müssen dann segeln, sodass die einen erheblichen Überschuss bekommen. Im kommenden Jahr werden auch die LMP2-Autos noch schneller sein. Da kracht uns schnell mal einer hinten drauf."

"In diesem Jahr hatten wir das Glück, dass Rebellion und ByKolles nie wirklich auf der Strecke im Kampf waren. Die Jungs in diesen Autos sind einfach vom Gas gegangen und hinter uns geblieben, obwohl sie am Ende von langen Geraden hätten vorbeigehen können. Wären die im direkten Fight gewesen, hätte es einige haarige Situationen geben können. Für mich ist es insgesamt ein Sicherheitsfaktor."

These #3: Auf dem langen Weg zu einem neuen Reglement 2020 werden sich alle LMP1-Autos zu ähnlich.

Stefan Dreyer (Audi-LMP1-Leiter): "Auch wenn wir leider nicht mehr dabei sein werden, bin ich mir sicher, dass Sportbehörden und Hersteller weiterhin interessante Ansätze finden werden, die eine Differenzierung der Konzepte ermöglichen werden. Ich glaube nicht, dass sich die Autos und Konzepte zu ähnlich werden."

Fritz Enzinger (Porsche-LMP1-Leiter): "Wenn ein Auto aufgrund des Konzepts schnell ist, dann schielen andere darauf. Das ist ganz normal. Wir haben mit unserem mutigen Weg eine Art Trend entfacht. Das finden wir gut. Allerdings lässt das Regelwerk weiterhin viele Möglichkeiten offen. Und es gibt noch Unterschiede. Der Toyota-Motor ist anders als unserer und deren E-Maschinen wahrscheinlich auch. Es bleibt aus meiner Sicht noch genügend Spielraum, sich zu differenzieren."

Rob Leupen (TMG-Geschäftsführer): "Äußerlich mag das in gewissem Maße stimmen. Wir gehen allerdings nicht diesen Weg. Ich verspreche für 2017 ein aufregendes Toyota-Auto. Die technologischen Konzepte werden sich auch weiterhin unterscheiden. Porsche bleibt beim Weg von 2016, wir werden andere Systeme fahren. Fehlen wird der große Exot Diesel. Aber ansonsten werden wir auch in Zukunft unterschiedliche Ansätze sehen."

Fritz enzinger

Erfolgreich in der WEC: Fritz Enzinger leitet das LMP1-Projekt von Porsche Zoom

Boris Bermes (Einsatzleiter ByKolles): "Wir kennen das doch aus der Formel 1. Je länger ein Reglement unverändert Gültigkeit hat, desto mehr nähern sich die Autos der Topteams an. Es liegt einfach daran, dass die gut finanzierten Werke nun ausreichend Zeit haben, die offensichtlich besten Lösungen bis ins Detail zu entwickeln. Somit nähern sich die Konzepte einander an. Wir als Privatteam verfolgen das nur von außen, da die Technologiekonzepte (Hybrid- und Allradantrieb) völlig unterschiedlich sind."

These #4: Spannenden Sport und Darstellung von Technologie in der LMP1 kann man auch für 50 Millionen Euro pro Jahr haben.

Fritz Enzinger (Porsche-LMP1-Leiter): "Nein, das geht definitiv nicht. Für die Technologie, die wir in den LMP1-Autos haben, ist halt ein bestimmtes Budget einfach notwendig. Wichtig ist, dass dieses Budget bei den Herstellern jeweils einen festen Rahmen hat. Nehmen wir zum Beispiel Porsche: Ob wir mit zwei oder drei Autos fahren, macht bezüglich des Budgets keinen großen Unterschied. Man ist bereit, ein ganz bestimmtes Investment zu machen. Das muss jeweils über relevante Technologie gerechtfertigt sein."

Rob Leupen (TMG-Geschäftsführer): "50 Millionen ist sehr sportlich. Das reicht nicht, um das Niveau und den Umfang der aktuellen Technologie zu realisieren. Es müssen auch keine 200 Millionen sein, denn es geht ganz sicher erheblich günstiger. Mit 50 Millionen kann ich gerade einmal die Logistik für die neun Rennen pro Jahr inklusive der Fahrzeugteile finanzieren. Wir brauchen moderne Monocoques, wir brauchen Karbon - und das kostet neben aller Hybridtechnik auch eine Menge Geld."

Stefan Dreyer (Audi-LMP1-Leiter): "Spannenden Sport kann man damit auf jeden Fall bieten. Darstellung von Technologie auf einem Level, wie wir ihn umgesetzt haben? No way! Ich mag keine konkrete Summe nennen, die dafür notwendig wäre. Aber ein dreistelliger Millionenbetrag ist da schon angesagt."


WEC Bahrain: Highlights vom Rennen

Die besten Szenen vom Saisonfinale der Langstrecken-Weltmeisterschaft in Bahrain, dem letzten Rennen von Audi und Mark Webber Weitere Langstrecke-Videos

Boris Bermes (Einsatzleiter ByKolles): "Diese These betrifft die Hersteller der Hybridfahrzeuge. Aber guten Sport kann man ganz sicher bieten, wenn jeder mit einem niedrigen Budget von 50 Millionen ein Auto baut und einsetzt. Die Rahmenbedingungen wären dann ganz andere, und dies hätte für Hersteller weniger Relevanz. Die heutige Technologie in der LMP1-Klasse erfordert hohe Summen. Man muss sich nur einmal vor Augen führen, wie viele Ingenieure beispielsweise bei Porsche in Weissach im Einsatz sind. Wenn du die Hybridtechnologie entsprechend entwickeln und darstellen willst, dann brauchst du mehr als 50 Millionen."

These #5: Mit dem Ausstieg von Audi hat sich das Thema Diesel auf der Langstrecke und generell im Motorsport für immer und ewig erledigt.

Stefan Dreyer (Audi-LMP1-Leiter): "Ich bin immer noch davon überzeugt, dass ein Diesel das effizienteste Motorkonzept ist, in dieser Serie sowieso. Ich könnte mir deshalb sehr gut vorstellen, dass der Diesel in der LMP1 eine Zukunft haben kann."

Rob Leupen (TMG-Geschäftsführer): "Je nach Entwicklung der Dieseltechnologie kann es passieren, dass sie vielleicht irgendwann wieder interessant wird, aufgrund der hohen Leistungsdichte im Kraftstoff. In anbsehbarer Zukunft sehe ich so etwas allerdings nicht. Ich glaube nicht, dass ich in meiner weiteren beruflichen Karriere noch einmal einem Diesel auf der Rennstrecke begegnen werde."

Fritz Enzinger (Porsche-LMP1-Leiter): "Aktuell ist das Thema erst einmal erledigt. Ich sehe nach dem Abschied von Audi keinen anderen Hersteller, der mit einem Diesel kommen könnte. Das hängt vielleicht mit der genrellen Positionierung des Themas Diesel zusammen. Die Hersteller, die aktuell ein Interesse an einem Einstieg bekunden, werden wohl kaum mit einem solchen Antrieb kommen wollen."

Boris Bermes (Einsatzleiter ByKolles): "Das hängt sicherlich von den Konzern- und Marketingstrategien ab. Ich bin sicher, dass bei Audi der Wechsel zum Diesel im Jahr 2006 und das anschließende Festhalten an dieser Antriebstechnologie bestimmt einen entscheidenden Einfluss auf die langfristige Teilnahme am LMP1-Zirkus hatte."


Fotostrecke: 1999-2016: Audi bei den 24h Le Mans

"Es passte zur PR-Strategie von Audi, den TDI in den Fokus zu stellen. Somit wurden die Budgets für Le Mans und WEC freigegeben. Aus rein technischer Sicht ist es schwierig zu beurteilen, ob der Diesel in Zukunft wieder das attraktivste Antriebskonzept sein kann. Die Wettbewerbsfähigkeit hängt natürlich stark vom Reglement und der Einstufung der verschiedenen Antriebskonzepte ab. Aber wenn es gerade in die Markenstrategie eines Herstellers passt, dann könnte nochmal ein Diesel kommen."