• 04.09.2015 11:20

  • von Roman Wittemeier

Neue Porsche-Aerodynamik: 20 Prozent mehr Abtrieb!

Hintergründe zum neuen Aerodynamikpaket des Porsche 919 Hybrid: Nackenschmerzen für die Piloten - Konkurrenz blickt ganz genau auf das Heck

(Motorsport-Total.com) - Porsche hat sich auf die Zeit nach Le Mans 2015 sehr intensiv vorbereitet. Pünktlich zum ersten Rennen nach dem Höhepunkt der diesjährigen Saison brachte das Werksteam aus Weissach ein neues Aeropaket für den 919. "Vor der Saison hatten wir entschieden, dass wir einen Kompromiss eingehen in der Form, dass wir zunächst voll auf Le Mans setzen und in Silverstone und Spa damit leben müssen. Das hatten wir auch dem Vorstand so kommuniziert, dass wir erst nach Le Mans auf den WEC-Strecken so richtig angreifen", sagt Porsche-LMP1-Leiter Fritz Enzinger im Gespräch mit 'Motorsport-Total.com'.

Titel-Bild zur News: Jani Lieb Dumas

Die Veränderungen an der Front des Porsche 919 Hybrid fallen kaum auf Zoom

Rund vier Monate Entwicklung stecken in der veränderten Aerodynamik des Le-Mans-Siegerautos. "Da braucht es einen solchen Vorlauf, denn es muss schließlich alles konstruiert und produziert werden", erklärt Porsche-Technikchef Alexander Hitzinger. "Man entwickelt die Aeroflächen im Windkanal, dann gibt es irgendwann einen 'Aero-Freeze'. Dann folgt Konstruktion und Berechnung mit abschließendem 'Design-Freeze'. Als letzter Schritt folgt die Produktion."

Die neuesten Entwicklungen für den 919 Hybrid hatten nach Aussage des bayerischen Ingenieurs nur ein Ziel. "Abtrieb", sagt Hitzinger. Man sei mit dem neuen Paket "in etwa auf einem Niveau mit Audi". Ein gewaltiger Sprung, denn immerhin hatten die Ingolstädter von Beginn an ein Konzept mit möglichst viel Anpressdruck verfolgt. "Wir haben schon in der Größenordnung von 20 Prozent an Abtrieb zulegen können. Das war das Ziel, einen solchen Korridor hatten wir anvisiert. Das ist schon viel", berichtet Hitzinger nicht ohne Stolz.

Seit Barcelona-Test: Piloten haben "neues Auto"

Die Porsche-Piloten beschreiben den überarbeiteten 919 als "ganz neues Auto". Bei den Testfahrten in Barcelona gab es für einige Beteiligte ein "Aha-Erlebnis" der besonderen Art. "Wir hatten keine Vergleichswerte in Barcelona, waren also sehr abhängig von den Aussagen der Fahrer. Ich bin mit Mark Webber zum Flughafen gefahren und er hat gesagt, es sei uns ein richtig guter Schritt gelungen", sagt Enzinger.

"Ich komme nach Barcelona und sehe zuerst den Neel - und der hatte plötzlich hinten im Nacken so blaue Pflaster drauf. Ich habe dann sofort gesagt: 'Wenn du die drauf hast, sieht es nach guter Querbeschleunigung aus'. Das war wirklich so", schmunzelt der LMP1-Leiter von Porsche. Neel Jani berichtet: "Das ist schon Wahnsinn, was dort jetzt für Kräfte in den Kurven wirken. Ich hatte erstmals seit meinen Formel-1-Tests wieder Nackenschmerzen."

Neel Jani

Spürt die Verbesserungen am "Popometer" und im Nacken: Neel Jani Zoom

Beim Blick auf das veränderte Paket fällt unter anderem eine homogene und rundere Form an der Front auf, nicht ganz so von Luftkanälen durchzogen wie beim Audi R18 e-tron quattro. "Auch wir haben viele kleine spezielle Features. Bei uns sieht man sie nur nicht so. Es ist alles mehr am Unterboden konzentriert, was man von vorn natürlich nicht sieht", meint Hitzinger. Porsche optimiert Luftströmung und Abtrieb an der Front unter anderem über sogenannte Vortex-Generatoren (Turbolatoren).

Vorderachse bestimmt das Abtriebsniveau

"Bei diesen Autos ist es so, dass du die Luftströmung am Vorderwagen sehr gut managen musst. Da steckt sehr, sehr viel Effizienz drin - entsprechend auch Abtrieb", erklärt Hitzinger den Ansatz. "Die Luftführung am Splitter und dahinter sowie um das Auto herum und über die Radhäuser ist relativ komplex. Man darf an der Front nicht zu extrem an die Grenzen gehen, sonst hat man den Heckflügel plötzlich in steiler Position quasi fixiert und raubt sich damit eine Setupkomponente."

"Wir haben auch radikale Änderungen Heck. Das Auto muss immer in aerodynamischer Balance sein. Die Hinterachse ist diesbezüglich recht begrenzt. Du hast den Heckflügel, aber sonst bleibt nicht viel, um dort hinten Abtrieb zu erzeugen. Wir haben uns nun Features einfallen lassen, die uns hinten den Abtrieb erhöhen. Somit konnten wir auch vorne nachlegen", so der ehemalige Formel-1-Techniker. Und genau bei diesen Lösungen am Heck gerät die Konkurrenz ins Stutzen.

Romain Dumas, Neel Jani, Marc Lieb

Am Heck hat der Porsche neuerdings aufgesetzte Flügelprofile Zoom

Porsche hat die Radhausentlüftungen nach innen gelegt und unterhalb des Heckflügels auf beiden Seiten weitere Flügelprofile quasi als Stützen verbaut. Der Clou: Die Abgase strömen zwischen zwei Profilen hindurch, beschleunigen den Luftstrom und sorgen somit indirekt für eine optimierte Wirkung des Diffusors. "Da ergeben sich sicherlich ein paar Fragezeichen. Wir haben uns das genauer angeschaut und hadern noch etwas mit dem Verständnis", sagt Audi-Technikchef Jörg Zander über die Porsche-Lösungen am Heck.

Entspricht Lösung am Heck dem "Geist des Regelwerks"?

"Es geht um die Referenz zum Reglement, wie man solche Lösungen begründen kann. Das müsste man noch etwas genauer betrachten", meint Zander. Audi ist weit entfernt davon, gegen die Aerodynamik des 919 zu protestieren, aber man stellt sich Fragen - und sicherlich dem ACO und der FIA auch. Toyota tappt bezüglich der zusätzlichen Flügel auch im Dunkeln. "Unser Le-Mans-Heckflügel entsprach auch allen Vorgaben des Regelwerks. Deswegen durften wir ihn dort fahren. Aber danach war Schluss", sagt ein hochrangiger TMG-Mitarbeiter.

"Ich will nicht sagen, dass so etwas illegal ist. Das denke ich tatsächlich nicht", will Zander nichts von einem Affront wissen. "Es ist halt bemerkenswert, dass hier erkennbar ist, dass offenbar die Abgase direkte Strömung über den Diffusor erfahren. Es werden die Maßgaben des Reglements bezüglich Abmessungen und Dimensionen eingehalten. Aber ob es dem Geist des Reglements entspricht? Das darf man mal hinterfragen."

"Es ist immer schwierig, gewisse Dinge zu erfassen, die nicht faktisch über Zahlenwerte genau definiert werden können. Da gibt es Freiräume. Wenn man sich nur an die Zahlen hält und alles sehr hart interpretiert, dann kann man mit zweideutigen Lösungen aufwarten. Das ist aber genau das, was wir in den Gesprächen mit ACO und FIA immer als Thema hatten. Wir wollen den Geist des Reglements respektieren. Das machen wir, indem wir uns austauschen", sagt der Audi-Technikchef.


WEC: Porsche triumphiert auf dem Nürburgring

Die Höhepunkt der 6 Stunden am Nürburgring: Porsche landet in der LMP1 und der GTE-Pro beim Heimrennen einen Doppelsieg

Porsche hat den direkten Draht zu ACO und FIA schon während der Entwicklungsphase genutzt, um die neue Lösung auf Legalität abzuklopfen. Aus Frankreich gab es keine Widerstände - somit durfte und darf das Team in der aktuellen Konfiguration fahren. "Wir waren recht kreativ, auch bei der Ausnutzung des Reglements", gibt Hitzinger offen zu, dass man sich bei Porsche sehr nahe an die Grenzen des Regelwerks herangetastet hat. Ob dies weitere Diskussionen nach sich zieht, bleibt abzuwarten.

Mehr Abtrieb: Bessere Reifennutzung, bessere Fahrbarkeit

Zurück zu den Eigenheiten des neuen Porsche-Pakets. Die veränderte Variante bietet nicht nur mehr Abtrieb, sondern auch etwas höheren Luftwiderstand und somit einen höheren Verbrauch. "Aber voll", lautet Hitzingers Antwort auf die Frage, ob das neue Paket Auswirkungen auf die Porsche-Booststrategien hat. "Es beeinflusst alles."

"Wir haben die Energie pro Runde, aber unser Volllast-Profil hat sich durch das neue Paket verändert. Es gibt diese 'Lift-off-Phasen', über die man die verwendete Treibstoffmenge einregelt. Diese Phasen sind natürlich beeinflusst, es betrifft also Boost, Rekuperation und 'Lift-off'. Durch mehr Abtrieb hat man geringeren Topspeed und kürzere Bremsphasen. Dadurch kann man weniger Energie rekuperieren", schildert der 43-Jährige.

Bernhard Webber Hartley

Die Konkurrenz fragt sich: Welchen Einfluss haben die Abgase am Heck des 919? Zoom

"Wir haben Abtrieb erhöht, aber haben dabei das Auto gutmütig gelassen. Das ist ein toller Kompromiss. Es ist nicht zu spitz ausgelegt, sondern noch gutmütiger als zuvor", beschreibt Hitzinger einen weiteren Effekt durch die Optimierung des Pakets auf mehr Abtrieb. "Da waren wir diesmal eher konservativ. Wir haben aus 2014 gelernt, als wir zu spitz unterwegs waren." Im vergangenen Jahr sorgte eben diese Eigenheit für Schwierigkeiten in Bezug auf die Fahrbarkeit - ein wichtiger Faktor auf der Langstrecke.

WM-Kampf: Notfalls legt Porsche 2015 noch einmal nach

"Bei Aero-Entwicklungen muss man immer vorsichtig sein. Man kann sich dabei auch in die eigene Tasche lügen", erklärt der Porsche-Chefentwickler. "Man kann sicherlich in der Entwicklung voll auf Performancespitzen setzen, aber dann wird das System beispielsweise derart abhängig von der Bodenfreiheit, von Lenkeinschlag oder Rolleffekten. Da könnte man meinen, man hätte wahnsinnig viel gefunden, aber auf der Strecke kommt es nicht auf der Stoppuhr rüber."

Dass das neue Porsche-System bestens funktioniert, wurde beim 6-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring deutlich. Die beiden 919 Hybrid kamen auf den Plätzen eins und zwei ins Ziel, man realisierte die schnellsten Rennrunden und hatte nicht mehr jenen Drop bei den Reifen wie noch in den ersten Rennen des Jahres und in der Saison 2014. Für die kommenden Rennen in Austin, Fuji, Schanghai und Bahrain scheint man bestens gerüstet zu sein.

Alex Hitzinger

Könnte auch 2015 noch einmal nachlegen: Porsche-Technikchef Alexander Hitzinger Zoom

"Solange wir Chancen in der WM haben, geben wir weiterhin Gas. Das ist uns wichtig. Wir brauchen ja schließlich weitere Ziele. Wir wollen die Spitze in der Hersteller-WM bis zum Ende des Jahres halten", sagt LMP1-Leiter Enzinger. "Es kann noch weitere Schritte von uns geben. Das hängt von der jeweiligen Situation in der WM ab. Mal schauen, ob wir noch nachlegen müssen. Wir müssen flexibel bleiben, ohne das 2016er-Auto dabei zu vernachlässigen. Es ist anstrengend, aber die Motivation ist so hoch, dass die Leute das sehr gern und sehr gut machen."