Kolumne zum Zanardi-Unfall: Schlussakt eines Dramas

Redakteur Markus Lüttgens erinnert sich an seinen Besuch beim verhängnisvollen Rennen auf dem Lausitzring: Es war das Ende einer Woche des Schreckens

Titel-Bild zur News: Alex Zanardi

Das CART.Rennen auf dem Lausitzring stand unter keinem guten Stern Zoom

Liebe Freunde der Steilkurve,

im Sommer 2001 konnte ich noch nicht wissen, dass der Motorsport 15 Jahre später einmal mein Beruf sein würde. Meine große Leidenschaft war er aber schon, so lange ich denken kann, und so elektrisierte mich damals folgenden Meldung: Die IndyCar-Serie (in Zeiten des unseligen Splits mit der IRL genau genommen die CART-Serie) kommt erstmals nach Europa! Fährt hier ein Rennen im Oval! Und das auf dem Lausitzring in Deutschland! Schnell war mir klar: Da will ich hin.

Ich finde es noch heute faszinierend, wie sehr mich dieses Rennen in seinen Bann gezogen hat. Ich war damals großer Fan von Michael Schumacher und der Formel 1, doch ein Rennen auf dem seinerzeit für mich nur 20 Kilometer entfernten Nürburgring habe ich nie besucht. Die hohen Ticketpreise haben mich immer abgeschreckt. Nun hatte ich aber plötzlich ein nicht viel billigeres Ticket und ein Hotelzimmer 700 Kilometer entfernt in der Lausitz gebucht. Es war wohl der Reiz des Neuen oder vielleicht die Vorahnung, dass dieses Rennen vielleicht eine einmalig Angelegenheit sein könnte, die mich faszinierte.

Faszination CART im Oval

So war Mitte September der Koffer gepackt, und ich freute mich auf ein paar Tage tollen Motorsport. Doch dann schien das plötzlich alles in Frage gestellt. Denn der Tag vor meiner Abreise war der 11. September 2001. Mit dem Bild der einstürzenden Türme des World Trade Centers vor Augen, war das Rennen für mich plötzlich ganz weit weg. Zumal am Abend dieses Dienstags zunächst völlig unklar war, ob eine US-Amerikanische Rennserie angesichts dieser Tragödie einfach so zur Tagesordnung übergehen kann. Denn NASCAR, NFL und andere Sportarten hatten schnell alle Wettkämpfe am nächsten Wochenende abgesagt.

Erst spät am Abend tauchte im Internet die Bestätigung auf: Das Rennen findet statt. Aufgrund der Ereignisse wurde der Titel von "German 500" auf "The American Memorial" umbenannt. So machte ich mich am nächsten Tag auf in die Lausitz, doch die unbefangene Vorfreude auf das Rennen war nach den Anschlägen in den USA irgendwie getrübt.

Alessandro Zanardi

Das Renn- und Ersatzauto von Alessandro Zanardi in der Box Zoom

Trüb war dann auch die Überschrift des ersten Trainingstags am Donnerstag, denn so zeigte sich der Himmel über der Lausitz. Es regnete den ganzen Tag lang, sodass an Fahrbetrieb auf dem Trio-Oval nicht zu denken war. So sehr sich die Jet-Dryer auch bemühten, der Asphalt blieb feucht. Stellenweise drehten Kranken- und Feuerwehrwagen sowie alle möglichen verfügbaren Fahrzeuge ihre Runden, um die Bahn trocken zu fahren. Doch es nützte nichts. Der einzige Programmpunkt auf der Rennstrecke waren damit fünf Schweigeminuten aus Anlass der Anschläge. Das Bild, wie sich dabei alle Hilfsfahrzeuge auf der Start-Ziel-Geraden aufstellten, wird mir immer im Gedächtnis bleiben.

Das Training fällt ins Wasser

Was macht der Rennfan, wenn es keine fahrenden Autos gibt? Richtig, er geht im Fahrerlager auf Autogrammjagd. Was mir dort gleich auffiel, war die wohltuend offene Atmosphäre. Die Boxen waren alle geöffnet, die Autos standen bereit und bei allen Teams konnten die Fans sich die exotischen Boliden aus der Nähe anschauen.

Und noch etwas fiel mir auf: Viele der Mechaniker lächelten, als sie mich sahen. Mir war zunächst nicht klar, warum, doch dann löste ein Mechaniker des WestPac-Teams das Rätsel auf, in dem er auf meinen Kopf zeigte und meinte "Hey, die Colts, unser Team. Wir sind aus Indianapolis!" Zufällig trug ich an diesem Tag ein Baseball-Cap des American Football-Teams Indianapolis Colts und hatte damit ungewollt bei vielen Mechanikern - die meisten Teams waren in Indianapolis stationiert, einen Stein im Brett. So plauderte ich eine Weile mit dem WestPac-Mechaniker, der mir das Auto des damaligen jungen Talents Scott Dixon ausführlich erklärte.

Scott Dixon

Kein Versteckspiel: Die Autos konnte man im Detail begutachten Zoom

Doch nicht nur die Autos, sondern auch die Fahrer waren an diesem Tag zum Greifen nahe. Während sich Piloten anderer Serien an einem solchen Regentag vielleicht in ihre Motorhomes verkrochen hätten oder ins Hotel zurück gefahren waren, hielten sich die CART-Piloten im Fahrerlager auf und standen für Autogramm und Fotos (den Begriff Selfie kannte damals noch niemand) zur Verfügung.

Lockerer Plausch mit den Fahrern

Ich schaute bei Memo Gidley vorbei und erkundigte mich, wie es ihm nach seinem wilden Unfall zwei Wochen zuvor in Elkhart Lake ging, sprach mit Alex Tagliani, der sich den deutschen Fans gegenüber dafür entschuldigte, dass sie wegen des Regens nicht fahren können, und traf auf Alessandro Zanardi, der trotz des miesen Wetters mit seinem charakteristischen Lachen durchs Fahrerlager lief und für jeden Fan Zeit hatte. Ohne es zu wissen, hatte ich damit zwei Fahrer getroffen, die an jenem Wochenende noch eine tragische Rolle spielen sollten.

Nach diesem, aus sportlicher Sicht gesehenen, Reinfall am ersten Tag hoffte ich am Freitag auf Action auf der Rennstrecke. Doch am Vormittag waren es wieder einmal nur die Jet-Dryer, die um den Kurs fuhren. Erst am Mittag war die Strecke abgetrocknet, doch viel gerettet war damit nicht. Denn das Qualifying wurde abgesagt, die Startaufstellung nach dem Meisterschaftsstand gebildet und lediglich ein Freies Training von 90 Minuten angesetzt.

Alex Tagliani

Alex Tagliani zwei Tage vor dem tragischen Unfall Zoom

Eine reichlich dürftige Ausbeute nach zwei Trainingstagen, aber die Autos endlich fahren zu sehen, den Sound zu hören und die Geschwindigkeit im Oval zu spüren, entschädigte ein wenig für anderthalb zähe Tage.

142 Runden lang ein wunderbares Rennen

Am Samstag meinte der Wettergott es dann gut mit der CART-Serie und den Zuschauern am Lausitzring. Strahlender Sonnenschein versprach einen wunderbaren Renntag, der ein versöhnliches Ende einer bis dahin sehr traurigen Woche werden sollte. 142 Runden war es das auch. Ich erlebte Oval-Racing vom Feinsten, mit vielen Überholmanövern und Führungswechseln, bei dem Alessandro Zanardi bis zu seinem späten Boxenstopp auf Kurs zu seinem ersten Sieg nach der Rückkehr in die CART-Serie lag.

Und dann plötzlich dieser Knall! Ich habe den Unfall selbst nicht unmittelbar gesehen, weil ich in einer andere Kurve des Ovals schaute, doch diesen dumpfen Schlag werde ich nie vergessen. Von meinem Platz auf der Haupttribüne aus rund 600 Metern Entfernung war auch nur schwer zu erkennen, was da genau passiert war. Ich sah eine Hälfte des Auto mit einer Achse auf der Straße liegen und dachte, der Motor samt Hinterachse hätte sich an der Sollbruchstelle vom Monocoque gelöst.


Alessandro Zanardi zurück am Lausitzring

Erst beim Blick durch das Fernglas wurde mir klar, dass es sich dabei um den Vorderteil des Autos handelte und das Cockpit in der Mitte auseinander gebrochen war. In dem Moment stand für mich fest: Das kann man nicht überleben. Ich war mir sicher, dass Alessandro Zanardi tot ist.

"Das kann man nicht überleben"

Mit einem Mal hatte ich jegliches Interesse am Rennen verloren. Ich packte meine Sachen zusammen, und als Kenny Bräck zwölf Runden später unter gelb als Rennsieger abgewunken wurde, ging ich bereits in Richtung Parkplatz. Über meinem Kopf flog ein Rettungshubschrauber hinweg. Wer dort drin lag, war nicht schwierig zu erraten. Ich jedoch war wie benommen und wollte nur noch weg von diesem schrecklichen Ort.

Während der kompletten 700 Kilometer Heimfahrt war ich der festen Überzeugung, dass Alessandro Zanardi gestorben sein musste. Meldungen im Radio, er schwebe in Lebensgefahr, glaubte ich damals nicht und hielt sie für Beschwichtigung. Spät am Abend kam ich zu Hause an und legte mich, vor allem psychisch erschöpft von dieser schlimmen Woche gleich ins Bett. Erst als ich am nächsten Morgen laß, dass Alessandros Zustand kritisch war, er aber lebte, hatte ich erstmals die Hoffnung, dass er es schaffen kann.

Markus Lüttgens

Redakteur Markus Lüttgens besuchte das Rennen damals als Fan Zoom

Und Alessandro hat es geschafft! Er überlebte einen Unfall, den man auch nach Einschätzung von Ärzten kaum überleben kann, feierte trotz seiner Behinderung weiterhin Erfolge als Motorsportler, gewann Goldmedaillen bei den Paralympics und ist in jeder Beziehung ein Vorbild - vor allem weil er seine ansteckende Lebensfreude durch den Unfall nicht verloren hat.

Wäre er auch ohne Ereignisse an jenem schicksalsträchtigen 15. September 2001 der Held, der er heute für viele ist? Das kann niemand sagen. Mir aber kommt auch 15 Jahre später dieser Unfall wie ein Teil einer teuflischen Choreografie vor, die nach einer tragischen Woche einen dramatischen Schlussakt setzen wollte.

Ihr


Markus Lüttgens