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Jeff Gordon und der Chase: "Ich hielt es für einen Scherz"

Ausgerechnet in seiner Abschiedssaison hat der viermalige NASCAR-Champion Jeff Gordon die große Chance auf Titel Nummer fünf - dank des ungeliebten Chase

(Motorsport-Total.com) - Jeff Gordon und das als Chase bekannte Playoff-System der NASCAR: Dies ist aus rein sportlicher Sicht ein Trauerspiel, welches nun im letzten Akt doch noch die Wende zur Heldensage schaffen könnte. Gordon ist es in seiner letzten Abschiedssaison tatsächlich gelungen, alle bisherigen Hürden des Chase zu meistern und an diesem Wochenende in Homestead als einer der vier punktgleich antretenden Finalteilnehmer um den Sprint-Cup-Titel 2015 zu fahren.

Titel-Bild zur News: Jeff Gordon

Jeff Gordon: Ein Titel im Chase-Format ist für ihn bislang Fehlanzeige Zoom

Sollte es dem 44-jährigen Hendrick-Piloten, dessen vier Titel in der höchsten NASCAR-Liga (1995, 1997, 1998 und 2001) allesamt aus der Ära vor Einführung des Chase stammen, tatsächlich gelingen? Gelingen, dass er das aus seiner ganz persönlichen Sicht ungeliebte Playoff-System ausgerechnet beim letzten Rennen seiner Karriere erstmals erfolgreich meistert? Es wäre beinahe paradox.

Gordons erste Reaktion, als er gegen Ende des Jahres 2003 von den Plänen der Einführung des Chase erfuhr, war keine Kritik. Vielmehr war es ungläubiges Lachen, mit dem er den NASCAR-Bossen gegenübertrat. "Ich werde nie vergessen, wie ich mit Brian France und Mike Helton am Hafenbecken in Key West stand und sie mir erzählten, was sie vorhaben. Ich musste sie auslachen, als ich vom Chase-Format erfuhr, denn ich hielt es für die lustigste Sache, von der ich je gehört hatte", erinnert sich Gordon.

Der Scherz von Key West, der keiner war

Doch genauso präsent wie die Erinnerung an sein eigenes Lachen ist dem vor seinem letzten NASCAR-Rennen stehenden Kalifornier die Erinnerung an die umgehende Reaktion der Herren France und Helton: "Ich hielt es für einen Scherz, doch dann realisierte ich sehr schnell, dass es kein Scherz war. Nun waren sie es, die mich auslachten. Ich frage nur 'Meint ihr das ernst?' und sie entgegneten 'Ja.'"

Brian France und Mike Helton

Brian France und Mike Helton meinten es ernst, als sie für 2004 den Chase erfanden Zoom

Dass Jeff Gordon ein Playoff-System, bei dem nach 26 von 36 Saisonrennen ein Strich gezogen und die Punkte mehrerer Fahrer angeglichen wurden, aus persönlicher Sicht nicht passte, liegt auf der Hand. Schließlich übernahm er 1995, in der Saison seines ersten Titels, beim 16. von 31 Rennen die Führung in der Gesamtwertung und gab sie anschließend nicht mehr ab. Den Titel fixierte er mit 34 Punkten Vorsprung auf den siebenmaligen und amtierenden Champion Dale Earnhardt.

1997, in der Saison seines zweiten Titels, übernahm Gordon beim 23. von 32 Rennen die Gesamtführung und verwaltete sie bis zum Schluss. Unterm Strich stellte er seinen zweiten Titel mit 14 Punkten Vorsprung auf Dale Jarrett sicher. 1998, in der Saison seines dritten Titels, übernahm Gordon das Zepter in der Gesamtwertung bereits beim 16. von 33 Rennen. Den Titel fixierte er mit unglaublichen 364 Punkten Vorsprung auf Mark Martin. 2001, in der Saison seines vierten Titels, riss Gordon beim 14. von 36 Rennen die Gesamtführung an sich. Als die Saison beendet war, schlug ein Vorsprung von 344 Punkten auf Tony Stewart zu Buche.

Grau ist alle Theorie

Zur Saison 2004 setzten NASCAR-Chef Brian France und NASCAR-Präsident Mike Helton ihre kurz zuvor in Key West gegenüber Gordon eröffneten Pläne in die Tat um. Seither wird der NASCAR-Champion bei den letzten zehn Saisonrennen im Playoff-Format ausgefahren, wobei die Details des Formats im Verlauf der Jahre mehrfach angepasst wurden. Egal, ob zehn, zwölf, 13 oder 16 Chase-Teilnehmer. Egal, ob mit oder ohne Wildcards. Egal, ob mit oder ohne Eliminierung: Im Zeitraum 2004 bis 2014 hieß der Champion am Saisonende niemals Jeff Gordon.

Wäre der Chase nicht eingeführt worden und das klassische Punktesystem über den kompletten Saisonverlauf würde noch heute zum Einsatz kommen, Gordon wäre neben seinen Titeln aus den Jahren 1995, 1997, 1998 und 2001 auch in den Jahren 2004, 2007 und 2014 Champion geworden und stünde somit rein statistisch heute auf einer Stufe mit Richard Petty und Dale Earnhardt. Doch trotz seiner starken Leistungen in den Jahren 2004, 2007 und 2014 weiß Gordon genau, dass derartige Gedankenspiele nicht mehr als graue Theorie sind.

Jeff Gordon feiert in Atlanta 2001 seinen vierten NASCAR-Titel

Atlanta 2001: Jeff Gordon feiert seinen vierten Titel, seitdem läuft der Drive for Five Zoom

"Wir könnten allenfalls darüber spekulieren, wie es gelaufen wäre, würde es das alte Punktesystem auch heute noch geben. Es besteht kein Zweifel, dass das alte System meinem Fahrstil entgegen kam. Der Grund, weshalb ich auf so vielen unterschiedlichen Strecken gewonnen habe, war die Konstanz, die unser Team auf all diesen Strecken stets an den Tag legte. Das hat sich in einem System, bei dem der Titel im Verlauf von 36 Rennen entschieden wurde, natürlich ausgezahlt", sagt Gordon und stellt vollkommen uneigennützig klar: "Ich fand es keine gute Idee, den Titel bei den letzten zehn Rennen auszufahren, denn diese zehn Strecken waren nicht die, die mir am besten lagen. Andere Fahrer haben da sicher stärker profitiert."

Doch die Tatsache, dass die seit 2004 nur geringfügig veränderte Liste der Chase-Strecken Fahrern wie Jimmie Johnson besser ins Konzept passt, ist nur die halbe Wahrheit, weshalb Johnson jeden seiner sechs Titel in der Chase-Ära gewann und Gordon jeden seiner vier Titel vor der Chase-Ära. Der einzige Fahrer, der sich in beiden Epochen durchsetzte und den Titel gewann, ist übrigens Tony Stewart. "Smoke" wurde 2002 auf ganz klassische Art und Weise Champion. 2005 und 2011 gewann er die Meisterschaft im Chase.


Fotostrecke: Jeff Gordons Drive for Five

Neben den persönlichen Streckenvorlieben gewisser Piloten ist für den Ausgang der Titelkämpfe seit 2004 eine andere Tatsache mindestens genauso entscheidend. Nämlich die, dass die Piloten ihre Taktik und Fahrweise stets den jeweils aktuellen Gegebenheiten anpassen. Jeff Gordon ist dies im Chase bis dato nicht mit allumfassendem Erfolg gelungen. Von seinen über 90 Siegen kamen lediglich sechs bei Chase-Rennen zustande, wobei jener im Oktober 2005 in Martinsville nicht als Chase-Teilnehmer eingefahren wurde. Die Saison 2005 war die einzige in Gordons Karriere, in der er den Einzug in die Playoffs verpasste. Als dies in der Saison 2013 noch einmal passierte, half NASCAR nach und nominierte den Hendrick-Piloten infolge des Richmond-Skandals rund um Michael Waltrip Racing völlig überraschend als 13. Chase-Teilnehmer.

Eine letzte Chance, das Chase-Format zu meistern

So sehr Jeff Gordon persönlich an der Einführung des Chase nagt, so sehr begrüßt er diese rückblickend im Sinne von NASCAR. "Natürlich wünschte ich, das Punktesystem wäre nie geändert worden. Wenn ich das Ganze aber mit einem gewissen Abstand betrachte, dann finde ich es aufregend. Das neue Format (mit stufenweiser Eliminierung; Anm. d. Red.) ist sogar noch besser. Ich werde dieses weiterhin unterstützen, so wie ich es immer getan habe, wenngleich es mir persönlich nicht gepasst hat. Unterm Strich ist das, was für den Sport am besten ist, auch für mich, für das Team, für alle Teams und für die Medien das beste."

Jeff Gordon

Mit dem Martinsville-Sieg fuhr sich Gordon ins Chase-Finale seiner Abschiedstour Zoom

Eine letzte Chance, das ungeliebte Chase-Format erfolgreich zu meistern, hat Jeff Gordon noch. Sollte er nach den 267 Rennrunden am Sonntag in Homestead seinen NASCAR-Helm tatsächlich nicht als viermaliger, sondern als fünfmaliger Champion an den Nagel hängen, dann wäre dies für den Hendrick-Piloten eigener Aussage zufolge "die ultimative ausgleichende Gerechtigkeit".