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Kolumne: Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat

Yamaha ist nur noch dritte Kraft - Die Zukunftsaussichten sind düster - Valentino Rossis Vertragsverlängerung unwahrscheinlich, da die M1 nicht konkurrenzfähig ist

Titel-Bild zur News: Maverick Vinales, Valentino Rossi

Chancenlos: Die Werks-Yamahas fuhren in Valencia erneut hinterher Zoom

(Motorsport-Total.com) - Die MotoGP-Saison 2017 ist Geschichte. Es ist unübersehbar, dass wir eine Goldene Ära der MotoGP erleben. Nicht das erste Mal in diesem Jahr sahen wir einen Weltmeister, der am Sonntagnachmittag alles aufs Spiel setzt, obwohl er eine unendliche Last und Verantwortung auf seinen Schultern trug. Marc Marquez ist in meinen Augen das Beste, was dem Sport in den vergangenen zehn Jahren passiert ist: ein leidenschaftlicher Topathlet, der auf taktische Spielereien pfeift und seine Fans mit echtem Racing begeistert. Er rettet scheinbar unmögliche Situationen, wirkt unermüdlich und legt trotz der für Außenstehende schwer nachzuvollziehenden Anstrengungen und Entbehrungen nicht sein bubenhaftes Lachen ab, das beinahe schon erschreckend gut kaschiert, wozu er fähig ist, wenn er auf einem Motorrad Platz nimmt.

Während in anderen Motorsportserien die Titel durch Taktieren, Entscheidungen am grünen Tisch oder schlicht und einfach viel zu dominante Hersteller entschieden werden, konnte man 2017 in der MotoGP erneut echten Motorsport erleben - auf höchstem Niveau! Das sollten wir in einer ruhigen Minute schätzen und würdigen.

Dass die WM bis zum Saisonfinale offen bleibt, hätte man vor dem Start vermutlich nicht erwartet. Maverick Vinales deutete nach dem Wechsel von Suzuki zu Yamaha an, dass er neben Marquez das größte Talent der MotoGP ist. Bestzeiten beim Nachsaisontest in Valencia im Herbst 2016, Bestzeiten bei den Vorsaisontests in Katar, Australien und Doha im Winter 2017. Und dann Pole-Position und Sieg beim Saisonauftakt in Katar. Am MotoGP-Himmel strahlte ein neuer Stern. Und wie er strahlte!

Der Absturz des Maverick Vinales

Knapp acht Monate später reibe ich mir verwundert die Augen, wenn ich das Ergebnis vom finalen Rennen studiere: Platz zwölf und mehr als 35 Sekunden Rückstand auf Sieger Dani Pedrosa - in einem Trockenrennen unter normalen Bedingungen auf einer Strecke, die allen MotoGP-Piloten bestens bekannt ist. Der bereits als neue Weltmeister gefeierte Vinales strahlt nicht mehr. Nein, stattdessen schlägt er mit seiner Faust Dellen in den Tank seiner M1. Vor Wut!

Maverick Vinales

Auf WM-Kurs: Maverick Vinales war zu Beginn der Saison der große Favorit Zoom

Rückblick: Beim fünften Rennen der Saison, dem Frankreich-Grand-Prix in Le Mans, war die Yamaha-Welt noch in Ordnung. Vinales und seine Markenkollegen Valentino Rossi und Johann Zarco kämpften auf der Stop-&-Go-Piste um den Sieg. Es sollte Yamahas 500. Grand-Prix-Sieg in der Geschichte des Motorradsports werden. Doch danach zogen dunkle Wolken auf.

Warnsignale wurden ignoriert

Yamaha verrannte sich bei der Chassis-Entwicklung. Bereits im Winter beschwerte sich Rossi über das fehlende Gefühl für das Vorderrad. Die Yamaha-Ingenieure wollten den Reifenverschleiß in den Griff bekommen, denn Rossi und Jorge Lorenzo kämpften vor einem Jahr meist mit stumpfen Waffen, wenn es im Rennen in den Endspurt ging. Doch bei der Entwicklung opferte Yamaha die große Stärke der M1. Vinales umfuhr die Probleme. Er kannte es ja nicht besser, während bei Rossi alle Alarmglocken läuteten.

Valentino Rossi

Bei den Wintertests erkannte Valentino Rossi, was mit der M1 nicht stimmt Zoom

Doch die Auswirkungen trafen das Team mit etwas Verzögerung: In der zweiten Saisonhälfte gelang kein Sieg mit der M1. Zehn Rennen ohne Sieg und in der Herstellerwertung nur noch dritte Kraft: Yamaha erlebt eine mittelschwere Krise. Dass man beim Saisonfinale in Valencia nach enttäuschenden Trainings und Qualifyings zum 2016er-Chassis zurückkehrte, wirkt in meinen Augen mehr als verzweifelt.

Bereits im Sommer wurden die Yamaha-Verantwortlichen von der Journalisten-Meute regelmäßig befragt, ob ein Schritt zurück beim Chassis nicht ratsam wäre. Johann Zarco und teilweise auch Jonas Folger hatten mit den Vorjahresmaschinen bei einigen Rennen leichtes Spiel, die Werks-Yamahas hinter such zu lassen. Warum packten die Yamaha-Ingenieure das Problem nicht eher konsequent an?


Fotos: Yamaha, MotoGP in Valencia, Rennen


Der Stolz der Japaner

Wenn man weiß, wie japanische Ingenieure ticken, dann überrascht das Verhalten nicht. Die Rückkehr zum älteren Modell gleicht einer Ohrfeige für die Entwicklungsabteilung. Europäer können vermutlich schwer nachvollziehen, wie groß diese Demütigung sein muss. Doch wenn Yamaha wieder zu alten Erfolgen zurückfinden möchte, dann müssen sich die Ingenieure vor allem an Ducati orientieren.

An Ducati? Der Marke, die Valentino Rossis Karriere beinahe vorzeitig beendet hat? Ja, denn die Italiener haben 2017 gezeigt, was heutzutage in der MotoGP notwendig ist: Eine Mixtur aus innovativen Lösungen, unglaublichem Teamspirit und schnellen Reaktionen auf neue Situationen haben die Desmosedici zum vermutlich besten Motorrad im MotoGP-Feld gemacht. Kein Motorrad konnte besser an die ständig wechselnden Michelin-Reifen angepasst werden. Die Ausrutscher, wie zum Beispiel das Rennwochenende in Australien, hielten sich in Grenzen.

Kouichi Tsuji

Yamaha-Motorsportchef Kouichi Tsuji steht momenta stark unter Druck Zoom

Machen wir uns nichts vor: Am Konzept der Yamaha M1 wurde in den vergangenen Jahren kaum etwas geändert, während Honda und Ducati alle Wege und Möglichkeiten ausschöpften. So reagierte die Konkurrenz von Honda auf die Probleme der vergangenen Jahre, indem sie die Zündfolge des aggressiven V4-Motors änderte. Es sollte sich auszahlen. Ducati opferte einen Teil der eigenen DNA und baute einen Alurahmen, um sich besser an die Einheitsreifen anpassen zu können. Mit Erfolg.

Rosige Aussichten für Ducati und Honda

Ich prophezeie, dass Ducati 2018 erneut um den Titel kämpfen wird - vermutlich sogar mit beiden Werkspiloten. Jorge Lorenzo demonstrierte bei den finalen Rennen, dass er sich doch an die Desmosedici anpassen kann. Und Dovizioso tankte das Selbstbewusstsein, das ihm bis Ende 2016 fehlte. Auch wenn Honda nicht das beste Motorrad hat, sehen die Aussichten mittelfristig gut aus, denn die Japaner haben den wohl besten Motorradfahrer der Neuzeit unter Vertrag. Und Yamaha? Erleben die "Blauen" erneut eine enttäuschende Saison? Ich habe meine Bedenken.

Was war die letzte große Änderung an der M1? Ist das Motorrad veraltet? Zu wenig innovativ? Die Antwort auf diese Fragen maße ich mir nicht an, doch ich bin überzeugt, dass das Konzept der M1 an seine Grenzen gerät. Gespannt bin ich, wie Johann Zarco in der neuen Saison mit der 2017er-Maschine zurechtkommt, sollte er sie überhaupt verwenden. Und was Yamaha den Werkspiloten anbieten kann.

Valentino Rossi

Keine Chance gegen Ducati und Honda: Ist das Konzept der Yamaha M1 veraltet? Zoom

Denn eins ist Fakt: Sollte Valentino Rossi zu Saisonbeginn hinterher fahren, dann wird er sich wohl kaum auf eine Vertragsverlängerung einlassen. Und dass die Nummer 46 für Yamaha aus sportlicher und wirtschaftlicher Sicht von großer Bedeutung ist, steht außer Frage. Ebenfalls außer Frage steht, dass seine Fußstapfen längst ausgefüllt wurden. Und in der Statistik wird die Luft auch immer dünner für Rossi, denn dessen Bestmarken scheinen für Marquez nur ein Zwischenziel zu sein. Ja, die Rossi-Fans müssen in den kommenden Wochen und Monaten stark sein. Oder sie genießen das, was in meinen Augen einfach nur toller Motorsport ist. Mit Niveau und ohne Buhrufe. Wir sind hier ja nicht beim Fußball!

Ihr,

Sebastian Fränzschky