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Die Formel 1 der Lüfte: Air-Race im Selbstversuch

Ein Selbstversuch am Rande des Bewusstseins: Wie es sich anfühlt, bei 6g nur noch schwarz zu sehen, und wie das Air-Race darum kämpft, echter Motorsport zu sein

(Motorsport-Total.com) - Es ist ein sonniger, idyllischer Tag in München, man sieht kilometerweit ins Land hinein. Ich donnere mit gut 300 km/h der A9 entlang, in Richtung City, entdecke die Allianz-Arena vor mir. Ich schlage einen Looping, wie ich es bisher nur aus dem Fernsehen kenne, hänge kopfüber in der Luft, vielleicht 40 Meter über dem Boden - und bin dabei schneller unterwegs, als es Michael Schumacher in seinem Ferrari jemals war. Ich rase senkrecht in die Luft, wie eine Rakete, die vom Boden abgeschossen wird, komme irgendwann zu stehen - und fliege fast wie im freien Fall wieder auf die Erde zu.

Titel-Bild zur News: Air-Race: Christian Nimmervoll im Selbstversuch

(Nicht ganz) über den Wolken: Christian Nimmervoll im Air-Race-Cockpit Zoom

Es ist der 21. April 2015, Flugplatz Schleißheim bei München. Ich steige zu Sergio Pla, einem erfahrenen Piloten, in ein Kleinflugzeug, das jenen sehr nahe kommen soll, mit denen sonst Hannes Arch & Co. beim Air-Race unterwegs sind. Das Air-Race, eine von Red Bull organisierte Weltmeisterschaft mit acht Rennwochenenden, sieht sich selbst als Formel 1 der Lüfte. Geflogen wird in Abu Dhabi, Japan, Kroatien, Budapest, bei der traditionsreichen Pferderennbahn in Ascot, am Red-Bull-Ring in Österreich, in Texas und Las Vegas.

Ein unscheinbarer Ort wie Schleißheim wäre eines großen Red-Bull-Events nicht würdig - der kleine Flugplatz ist aber völlig ausreichend, um einigen Journalisten einen Einblick zu vermitteln, was Air-Race eigentlich bedeutet. Mann gegen Mann in Fliegern, die schneller sind als die Formel 1, und das Ganze noch als Rennen verpackt - eigentlich ist das Air-Race genau der Stoff, aus dem Sport-Heldengeschichten gestrickt werden. Gerade in einer Zeit, in der die Formel 1 viel von ihrem Geruch nach Heldentum zu verlieren droht.

6g: Nahe der Bewusstlosigkeit

Was Heldentum beim Air-Race bedeutet, davon kann ich mir in Schleißheim selbst ein Bild machen. Pilot Sergio fragt mich immer wieder, ob ich "okay" sei, und ich bejahe. Ich habe schon einen Fallschirmsprung auf Hawaii hinter mir, war paragleiten in den Vorarlberger Bergen, Beifahrer von Nasser Al-Attiyah im Dakar-VW-Touareg, bin einen Formel Renault auf dem Nürburgring und einen Formel BMW in Valencia selbst gefahren. Aber was ich gleich erleben sollte, das ist genauso unerwartet wie beeindruckend.

Sergio steuert - wir sind bereits am Ende unseres siebenminütigen Media-Flights - auf die Pylonen zu, wie sie auch beim Air-Race durchflogen werden müssen. Er senkt das Flugzeug ab, zieht es danach in einem gefühlt extrem engen Bogen wieder nach oben. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich weder mit den Eindrücken noch mit den Fliehkräften ein Problem. Ich verspüre auch diesmal keine Angst, aber mir wird schwarz vor Augen. Ich drohe das Bewusstsein zu verlieren.

Sergio Pla und Christian Nimmervoll

Sicher ist sicher: Sergio Pla erklärt, wie der Rettungsfallschirm funktioniert Zoom

Dabei hat mich Sergio gut auf diesen Moment vorbereitet: Muskulatur anspannen, damit das Blut nicht ohne Widerstand vom Kopf in die unteren Regionen des Körpers fließen kann, auf die Atmung konzentrieren, wach bleiben. Hilft alles nichts. Ich klinke mich zwar nicht ganz aus, bin aber für ein, zwei Sekunden wirklich kurz davor. Es ist kein unangenehmes Gefühl. Es wird schwarz vor Augen, im buchstäblichen Sinn, und ich fühle mich so, als würde ich gerade einschlafen.

Kein unangenehmes Gefühl

"This one was the worst", funke ich Sergio zu, als ich wieder voll da bin. Loopings, Sturzflug in Richtung Boden, kopfüber nur noch in den Gurten hängen - alles Kinderkram, den ich zwar als wahnsinnig schön, aber keineswegs als beängstigend empfinde. Aber so knapp davor zu sein, wegen hoher Fliehkräfte das Bewusstsein zu verlieren, das ist für mich neu. Und lässt mich grübeln, wie hart man wohl trainieren muss, um solche Belastungen permanent auszuhalten.

"Komm her", sagt Sergio nach unserer Landung, und tippt mit dem Finger auf eine Anzeige in seinem Cockpit. Der Zeiger steht auf etwas über 6g. Das war die maximale Fliehkraft-Belastung, der ich bei der Wende nach den Pylonen ausgesetzt war. "Gar nicht schlecht", meint Sergio. "Das halten beim ersten Mal nicht alle aus." Ich ertappe mich dabei, mich geschmeichelt und wahnsinnig cool zu fühlen, und denke mir dann, dass er das wahrscheinlich allen sagt.


Air-Race-Flight mit Pilot Sergio Pla in München

Mehr als 10g sind nicht mehr erlaubt

Beim echten Air-Race sind die Helden der Lüfte mit 370-PS-Maschinen unterwegs, die maximal 370 km/h schnell sein und (seit 2014) 10g nicht überschreiten dürfen. Aus Sicherheitsgründen. Das ist fast die doppelte Belastung, der ich nur für ein bis zwei Sekunden ausgesetzt war. Hannes Arch, Matthias Dolderer und Co. würden diese über einen viel längeren Zeitraum mit links aushalten. Und sie müssen dabei auch noch konzentriert bleiben, schließlich gibt es beim Air-Race Strafsekunden zum Beispiel dafür, wenn die Flügelstellung nur um zehn Grad von der vorgeschriebenen Position abweicht.

Ich nehme das Air-Race erstmals am 26. Oktober 2014 als Motorsport wahr. Ja, ich habe davor schon einzelne Events gesehen, beim Durchzappen im Fernsehen, bin aber nie wirklich dabei hängen geblieben. Das ist diesmal anders. Ich stehe vor dem Media-Center des Red-Bull-Rings (das sich im Gegensatz zur Formel 1 über dem Boxengebäude befindet), wundere mich über die tolle Stimmung der zehntausenden Fans und habe Wende-Pylonen direkt vor mir, vielleicht in 100 Meter Entfernung.

Air-Race-Saisonauftakt 2015 in Abu Dhabi

Spektakuläre Kulisse: Air-Race-Saisonauftakt 2015 in Abu Dhabi Zoom

Plötzlich donnert einer der Air-Racer auf diese Pylonen zu, wendet in einem extrem engen Bogen, wirkt auf mich unglaublich schnell. Wie ein Formel-1-Auto solche Manöver schaffen kann, ist mir klar: Die Verbindung zwischen Reifen und Straße kann ich sehen, ist daher rational für mich erklärbar. Aber das einzige Element, mit dem die Air-Race-Piloten ihren "Grip" erzeugen, ist Luft - und die ist unsichtbar. Ich bin beeindruckt und beginne die Faszination dieser Rennserie zu verstehen.

Held der Lüfte: Hannes Arch

Zurück in Schleißheim, ein paar Monate später. Ich sitze gut eine Dreiviertelstunde lang mit Hannes Arch zusammen, dem Weltmeister von 2008. Er hätte am Red-Bull-Ring, beim Saisonfinale 2014, vor heimischem Publikum Champion werden können. Alles schien angerichtet: Arch hatte das Qualifying gewonnen, zahntausende Fans choreografierten "Hannes" auf die größte Tribüne, der Streckensprecher hatte seine Finger schon auf dem Knopf, um den triumphalen Siegesflug mit "I am from Austria", der inoffiziellen Nationalhymne Österreichs, zu begleiten.

Es war eine Stimmung, wie ich sie noch bei keinem Formel-1-Rennen erlebt hatte. Doch Arch wurde ein Opfer seiner eigenen Nerven, flog zu schnell an, leistete sich kleine Fehler, scheiterte. "Ich wollte einfach zu viel", gesteht er. Weltmeister wurde stattdessen Nigel Lamb, ein 58-jähriger Ex-Militärflieger aus Rhodesien, der für Großbritannien an den Start geht. Arch, dem gerade die Chance seines Lebens durch die Finger geglitten war, wirkte den Tränen nahe - und goss sich abends ein paar Bierchen in die Binde, um zumindest den akutesten Schmerz zu bekämpfen.

Fans jubeln Hannes Arch beim Air-Race-Finale in Spielberg 2014 zu

Tausende Fans jubeln Hannes Arch beim Air-Race-Finale in Spielberg 2014 zu Zoom

Eine zumindest in Teilen inszenierte, künstlich dramatisierte Show? Vielleicht. Aber wenn man das dem Air-Race vorwirft, dann muss man es auch Rennserien wie der DTM vorwerfen. Jeder weiß das, keiner spricht darüber. Spannend? Allemal. Stoff für gute Storys? Mit Sicherheit. Tolle Bilder? Sehen Sie selbst! Aber das Air-Race hat ein fundamentales Problem: Es wird von der breiten Masse und von den Medien immer noch nicht als Motorsport-WM wahrgenommen, sondern als Kunstflug-Spektakel.

Stars des Air-Race international kaum bekannt

Während den deutschen Air-Racer Matthias Dolderer außerhalb der eingeschweißten Fliegercommunity kaum jemand kennt (daran ändert auch ein ebenso sympathischer wie interessanter Auftritt bei Markus Lanz nichts), ist Hannes Arch in Österreich überaus populär. Es ist ein kleines Land mit wenigen internationalen Sporthelden, und wenn dann einer irgendwo Weltmeister wird, dann ist er jemand. Da juckt es auch keinen, dass man die Konkurrenten beim Air-Race im Vergleich zum 100-Meter-Sprint oder Tennis an einer Hand abzählen kann.

Aber in Österreich sind auch Skifahrer Nationalhelden, obwohl es vielleicht ein Dutzend ernsthaft am Weltcup teilnehmende Länder gibt, und Arch ist, das muss man zugeben, ein faszinierender Typ. Die Formel 1 würde sich für so einen alle zehn Finger abschlecken. Das beginnt schon beim Lebenslauf: Mit 19 ist Arch staatlich geprüfter Berg- und Schiführer, mit 23 "einer der besten Kletterer weltweit", wie es auf seiner Website heißt.


Air-Race-Saisonfinale 2014 in Spielberg

Parallelen zu Felix Baumgartner

Nebenbei studiert er Sportwissenschaften und unterrichtet Klettern an der Universität Graz. Irgendwie wird er zu einem "Pionier des Gleitschirm-Kunstflugs", entdeckt dabei die Liebe zur Fliegerei. In unserem Interview erklärt er mir, dass es den Blick auf die Dinge verändere, die Welt von oben zu sehen. Ich erinnere mich, dass Felix Baumgartner etwas Ähnliches gesagt hat, als er aus einer Raumkapsel in 39 Kilometer Höhe sprang, und frage mich, ob das wohl Red-Bull-Marketinglinie sei.

Arch gibt an, zum Frühstück Red Bull zu trinken. Ich wage das zu hinterfragen, finde aber andererseits nichts Schlimmes dabei, die Message eines Sponsors zu tragen, wenn einem dieser die Lust am Leben finanziert. Und nur so kann man beschreiben, was Red Bull Arch ermöglicht hat. Vor seiner Red-Bull-Karriere als Paraglider, Basejumper und Kunst-, pardon, Sportflieger hielt er sich mal so, mal so über Wasser. Er lebte in einer kleinen Wohnung, hatte gerade genug Geld, um sich seine Hobbys zu leisten.

Chefredakteur Christian Nimmervoll im Interview mit Hannes Arch

Chefredakteur Christian Nimmervoll im Interview mit Air-Racer Hannes Arch Zoom

Heute muss sich Arch um Geld keine Sorgen mehr machen. Er hat seine vielzähligen Leidenschaften mit seinem Geschäftssinn verbunden, führt sein eigenes kleines Unternehmen, vermarktet sich selbst geschickt. Aber er ist sich dabei treu geblieben. Wenn er minutenlang monologisiert, wie faszinierend es sei, Gefahr zu kontrollieren oder frei wie ein Vogel durch die Lüfte zu gleiten, dann wirkt er authentisch. Ich glaube: Er ist es.

Todesangst ist keine Motivation

Aber wer erwartet, dass Air-Racer wie er halsbrecherische Hasardeure sind, die lieber einen Heldentod sterben würden als langweilig zu leben, der irrt. Das Risiko oder gar die Todesangst sind nicht sein Antrieb, versichert Arch. Ja, es gehe darum, diese Faktoren zu kontrollieren, und das habe in der Regel mit professioneller Vorbereitung zu tun. Wenn er Angst hätte, dass etwas passieren könnte, würde er nicht einsteigen, sagt er.

2011 bis 2013 fand das Air-Race nicht statt. Die Rennserie musste sicherer werden, Arch gilt als eine der treibenden Kräfte hinter dem Comeback 2014. Jetzt kämpft Red Bull darum, die Events als Motorsport zu etablieren. Matthias Dolderer, der deutsche Air-Racer im Feld, hat Zsuzsa Szalontai als PR-Beraterin engagiert. Das ist für die Entwicklung des Air-Race ein Fingerzeig, denn Szalontai betreut auch den ehemaligen Formel-1-Piloten Timo Glock, heute bei BMW in der DTM.

Air-Race: Peter Besenyei fliegt durch die Kettenbrücke in Budapest

Sehenswerter Wahnsinn: Peter Besenyei fliegt durch die Kettenbrücke in Budapest Zoom

In der Weltmeisterschaft 2015, in der drei von acht Events absolviert sind, liegt Dolderer an fünfter, Arch an dritter Stelle. Es führen, ex aequo, der Brite Paul Bonhomme und der Australier Matt Hall. Peter Besenyei (er gilt als Erfinder des Air-Race) ist Zwölfter. Um ihn wird am kommenden Wochenende Volksfeststimmung herrschen, beim Air-Race in Budapest. Dort fliegen der Ungar und seine Gegner unter anderem unter der Kettenbrücke durch. Ein sehenswerter Wahnsinn.