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  • 03.08.2012 11:54

  • von Dominik Sharaf

Wortklauberei kommt vor Ingenieurskunst

So funktioniert Entwicklungsarbeit: Ein Ingenieur schreibt die Regeln, ein Kollege interpretiert - Nicht jedem schmeckt die Floskel vom "Geist des Reglements"

(Motorsport-Total.com) - Die Formel 1 begann als Ort der Selbstverwirklichung für Fahrkünstler und Husaren, wurde dann zum Mekka der Ingenieure. Heute kommen auch die Juristen auf ihre Kosten: In Zeiten eines komplexer werdenden Reglements mit immer mehr Facetten und Restriktionen scheint über die Technik an den Boliden der einzelnen Teams mehr diskutiert zu werden als über sportliche Belange. Diese Entwicklung sehen die technischen Verantwortlichen gespalten, glauben aber nicht, dass sich die Uhren noch zurückdrehen lassen.

Titel-Bild zur News: Rob Marshall (Entwicklungschef, Red Bull), Adrian Newey (Technischer Direktor, Red Bull)

Auf der Suche nach Perfektion: Adrian Newey (links) und Rob Marshall

Martin Whitmarsh äußert gegenüber 'Autosport' zumindest den Wunsch nach Regeln ohne Grauzone: "Das Ziel sollte es sein, eindeutige und klare Rahmenbedingungen zu schaffen", so der McLaren-Teamchef, der seine Hoffnungen ohne Umwege in das Reich der Fabeln verbannt: "Das wird es aber nie geben, weil die Regeln so komplex sind, dass sie Interpretationen zulassen." Kurzum: Mit Dingen wie Diffusoren, DRS und KERS hat sich die Formel 1 in eine Sackgasse manövriert.

Für Newey gehört die Grauszone dazu

Und es liegt auch in der Natur der Sache, dass die Wettbewerber im Multi-Millionen-Dollar-Geschäft versuchen, aus diesem Sachverhalt Kapital zu schlagen - und notfalls auch das Risiko eines illegalen Autos in Kauf nehmen, wie Adrian Newey andeutet: "Es liegt an den Teams, die Grenzen zu erkunden. Wenn eine Interpretation möglich und zu rechtfertigen ist, dann ist das zu erwarten", so der Red-Bull-Chefdesigner, dessen Team sich immer am Limit befindet - wenn nicht sogar jenseits davon.

Die richtige Reaktion sieht der britische Startechniker aber nicht in dem Bestreben, ein wasserdichtes und starres Reglement zu schaffen. "Wichtig ist, dass alle Teams fair und gleich behandelt werden, wenn sie in der Grauzone arbeiten", fordert Newey. "Zum Beispiel liegt dort das Doppel-DRS, wurde aber für legal befunden. Das ist okay, solange es beständig bleibt. Das liegt in der Natur der Sache." Im Fachjargon heißt das dann: "Geist des Reglements".

Es spukt bei den Vorschriften

Ein Term, der dehnbar ist wie ein Kaugummi. Und für Monisha Kaltenborn eine zu leichte Rechtfertigung für jede noch so riskante Interpretation: "Wohin führt das, wenn es um den Geist geht?", fragt die Sauber-Geschäftsführerin, die auch studierte Juristin ist, im Gespräch mit 'Autosport'. "Das bringt uns nicht weiter. Im Rechtswesen würde man argumentieren, dass der Geist immer die schwächste Form der Interpretation ist. Er ist zu wage."

Und auch Whitmarsh kennt Entschuldigungen vom Reißbrett: "Du musst nur sagen, es sei gängige Praxis zu eruieren, was der Geist des Reglements ist", weiß der McLaren-Verantwortliche. James Allison sieht dennoch Gehalt in dem Begriff. Nicht zuletzt auch deshalb, weil nicht nur die Teams davon Gebrauch machen, sondern auch die FIA: "Es wäre falsch, zu sagen, es gäbe etwas wie den Geist des Reglements nicht. Charlie (Rennleiter Whiting, Anm. d. Red.) gebraucht ihn oft, um die Regeln klarzustellen."

Nur der Wortlaut zählt

Ist eine Vorschrift zweideutig, können die Teams den Vorteil eine Weile nutzen. "Am Ende aber setzt sich die eigentliche Intention durch", erklärt der Lotus-Technikchef 'Autosport'. Doch läuft hier nicht etwas falsch? Entwickeln Teams Teile, um sie ex post facto nach dem Renneinsatz auf ihre Konformität prüfen zu lassen und eine Klarstellung des Reglements zu erwirken, wird das der Intention von Regularien nicht gerecht. Sie schaffen keine gleichen Ausgangsbedingungen, sondern nur noch gleiche Resultate.

Das führt dazu, dass Wortklauberei vor der eigentlichen handwerklichen Aufgabe der Ingenieure steht. Auf juristische Leerformeln stürzt man sich wie ein Rudel gefräßiger Löwen. "Wenn wir erarbeiten, was zu unserem Vorteil ist, lassen wir die Intention völlig außer Acht und versuchen nur die Worte zu sehen, um zu erkennen, welche Möglichkeiten es gibt", gewährt Allison einen Einblick in die Arbeit in einer Formel-1-Fabrik. Und die treibt seltsame Blüten, was die Abläufe angeht.


Fotos: Großer Preis von Ungarn, Sonntag



Mein Gegner, der Büronachbar

Konkret heißt das dann: Ein Team-Verantwortlicher sitzt am runden Tisch und gestaltet die Regeln mit, damit ein anderer diese im stillen Kämmerlein respektive dem Nachbarbüro zerpflückt und ihre Schwachstellen gnadenlos offenlegt. "Oft ist es ein Nachteil, in die Entstehung der Regeln verwickelt zu sein, weil man sich zu sehr darauf konzentriert, was sie sagen soll und nicht beachtet, was sie sagt", bemerkt Allison, der als Mitglied der Technischen Arbeitsgruppe bei Lotus nicht die Interpretationshoheit besitzt.

"Die Informationen kommen von Leuten, denen sie nur als Aufschrieb präsentiert werden und die sie deshalb kritisch beäugen können. So geht mein Team das an und das dürfte auch auf die Mehrheit des Feldes zutreffen", gibt er einen Einblick. Williams-Kollege Mark Gillan will nicht schwarzmalen. Er glaubt, dass die Situation in der Formel 1 aktuell deutlicher ist, als sie beschrieben wird. "Wenn du dabei auf den Geist zurückgreifen musst, braucht es eine Klarstellung."

James Allison

Gestaltet die Regeln mit, soll sie aber nicht interpretieren: James Allison Zoom

Er nennt alle Teams gemeinsam dafür verantwortlich, dass klare Regeln herrschen. "Wir diskutieren sie alle paar Monate, auch mit der FIA. Gibt es Bereiche, in denen Teams Kapital schlagen, kommen sie zur Sprache. Das passiert immer und funktioniert gut." Doch was bringt das, wenn nach den Meetings die Kollegen der Verantwortlichen am runden Tisch darauf angesetzt werden, die Erfolge ihrer Kollegen zu torpedieren?