Senna vs. Massa: Mit zweierlei Maß gemessen?

Die Berührung zwischen Felipe Massa und Bruno Senna in Singapur wirft einmal mehr die Frage über die Konstanz der Entscheidungen der FIA-Rennkommissare auf

(Motorsport-Total.com) - Es ist der subjektive Eindruck vieler Formel-1-Beobachter, dass die FIA in der Saison 2012 bei strittigen Situationen zwischen zwei Fahrern so hart durchgreift wie nie zuvor. Romain Grosjean musste in Monza erstmals seit Michael Schumacher 1994 eine Sperre absitzen, und dass Sebastian Vettel für sein Manöver gegen Fernando Alonso in Monza mit einer Durchfahrstrafe belegt wurde, hätte noch vor zehn Jahren nicht nur im Red-Bull-Camp für Kopfschütteln gesorgt.

Titel-Bild zur News: Bruno Senna vor Felipe Massa

Felipe Massa kurz vor seinem Angriff auf Williams-Pilot Bruno Senna Zoom

Aber wenn schon strenge Maßstäbe angewendet werden und im Sinne der Konstanz eine exakte Regelinterpretation vor Fingerspitzengefühl und Augenmaß geht, so sollte dies eigentlich für alle Fälle gelten. Das sieht Felipe Massa aber nicht mehr gegeben, seit er in Singapur mit Bruno Senna aneinandergeraten ist: "Ich war komplett neben ihm, aber er drückte mich in die Mauer", beklagte sich der Ferrari-Pilot nach dem Rennen. Die FIA-Rennkommissare sprachen gegen Senna trotzdem keine Strafe aus.

Sehr zu Massas Unverständnis: "Der Ursprung ist Bahrain. Danach haben sie die Regeln geändert", wettert er. "Wenn du jetzt ein Auto neben dir hast, darfst du die Tür nicht mehr zumachen. Genau das hat er heute aber gemacht." Hintergrund: Als sich Nico Rosberg beim Bahrain-Grand-Prix unter anderem gegen seinen künftigen Teamkollegen Lewis Hamilton so hart verteidigte, dass er diesen sogar neben die Strecke drängte, überdachte die FIA das Reglement - und brachte vor Silverstone eine Präzisierung in Umlauf.

Rosberg als Auslöser der Diskussion

Darin heißt es: "Jeder Fahrer, der seine Position auf einer Geraden vor einer Bremszone verteidigt, darf während seines ersten Manövers die volle Streckenbreite verwenden, vorausgesetzt kein wesentlicher Teil des Autos, das zu überholen versucht, ist neben seinem (Auto; Anm. d. Red.). Während er sich auf diese Weise verteidigt, darf der Fahrer die Strecke ohne gerechtfertigten Grund nicht verlassen." Genau das hatte Rosberg bei seinem Verteidigungsmanöver nämlich getan, als er den Begriff Streckenbreite ziemlich großzügig auslegte.

Weiter steht in der FIA-Präzisierung: "Um Missverständnisse auszuschließen; wenn ein beliebiger Teil des Frontflügels des Autos, das zu überholen versucht, auf gleicher Höhe mit dem Hinterrad des vorausfahrenden Autos ist, wird dies als 'wesentlicher Teil' verstanden." Und wie das Replay des Senna/Massa-Manövers auf der Anderson-Bridge beweist, war Massas Ferrari-Frontflügel per Definition durch die gerade erläuterte FIA-Notiz TM/006-12 mehr als auf gleicher Höhe mit dem Williams-Hinterrad. Massas rechtes Vorderrad berührte Sennas Auto sogar vorne am Seitenkasten.

Die Rennkommissare, die über den Vorfall zu entscheiden hatten, waren Jose Abed, Garry Connelly, Nish Shetty - und Audi-Werksfahrer Allan McNish, am vergangenen Wochenende mit der Langstrecken-WM (WEC) zu Gast in Bahrain. Dort baten wir ihn um eine Erklärung, aber: "Ich kann nicht zu sehr in die Details gehen und mehr sagen, als durch die offiziellen Mitteilungen verkündet wurde", bedauert er. "Die Aussagen der Fahrer und Teams werden vertraulich behandelt. Es wäre falsch, öffentlich darüber zu sprechen."

Wurz verteidigt Senna: "Extrem schmal"

Immerhin gibt McNish aber zu, dass es "keine einfachen Entscheidungen" gibt, wenn es um solche oder vergleichbare Fälle geht: "In der Rennleitung sitzen vier Kommissare. Wenn ihnen ein Zwischenfall gemeldet wird, untersuchen sie ihn. Jeder Kommissar verfügt über unterschiedliche Erfahrungen, aber es wird immer eine Mehrheitsentscheidung getroffen. Manchmal dauert es länger, um alle Möglichkeiten und Eventualitäten zu bedenken und alle Beteiligten anzuhören", erklärt er auf Anfrage von 'Motorsport-Total.com'.

Williams-Fahrermentor Alexander Wurz, ebenfalls mit Erfahrung als FIA-Rennkommissar ausgestattet, glaubt, dass Senna "nicht gewusst hat, dass Massa neben ihm ist. Er ist deswegen seine komplett normale Rennlinie weitergefahren. Dort ist es extrem schmal. Deswegen endete das in einer solch extrem aussehenden Situation." Tatsächlich ist die Anderson-Bridge zwischen den Kurven 12 und 13 eine höchst ungewöhnliche Stelle für ein Überholmanöver, und tatsächlich ist die Fahrbahn dort nur zwölf Meter breit. Das dürfte ins Urteil eingeflossen sein.

Allan McNish

Allan McNish in offizieller FIA-Kleidung: Er war in Singapur Rennkommissar Zoom

Denn: "Man hat bedacht, dass ein Fahrer an jener Stelle alle Hände voll zu tun hat, auf der Strecke zu bleiben. Es ist dort unübersichtlich. Deswegen hat man es als Rennzwischenfall eingestuft, weil es gut gegangen ist. Es war sicherlich eine knappe Entscheidung", vermutet Wurz und ergänzt: "Viel mehr Platz ist dort nicht. Bruno ist ja auch nicht in einer Charity und muss dort nicht vom Gas gehen. Wenn du dort um die Rechtskurve mit Vollgas herumfährst, dann drückt es dich eine Spur hinaus. Er hat auch rechts nicht mehr als 1,20 Meter gehabt."

FIA begründet: Es war keine Gerade...

"Dort ist die Strecke extrem schmal, es sind dort viele Dinge zusammengekommen. Ich finde es okay, dass es ein Rennzwischenfall war", analysiert der Österreicher und erhält Zustimmung von einem weiteren gelernten FIA-Rennkommissar, Tom Kristensen. Der glaubt, dass so entschieden wurde, weil Massa vorbeigekommen ist und beide weiterfahren konnten: "Ich glaube, es wäre anders ausgegangen, wenn Massa nicht vorbeigekommen wäre. Ich denke, Senna hat das nicht mit Absicht gemacht - er wusste nicht genau, wo Massa war. Das war ähnlich wie bei Vettel und Alonso."

Vettel wurde in Monza allerdings bekanntlich bestraft, weshalb man der FIA die legitime Frage stellen darf, ob nicht mit zweierlei Maß gemessen wurde. Aber: "Die Untersuchung von Video-Beweismaterial verschiedener Autos in verschiedenen Runden zeigt, dass Senna auf seiner normalen Rennlinie war, als Massa neben ihm auftauchte", so ein Verbandssprecher. "Es wurde entschieden, dass Senna seine Position nicht auf einer Geraden verteidigt hat, worauf sich Dokument TM/006-12 bezieht." Denn an jener Stelle ist die Fahrbahn nicht komplett gerade...

"Es wurde entschieden, dass Senna seine Position nicht auf einer Geraden verteidigt hat." FIA-Sprecher

Zudem floss laut dieser Darstellung in die Bewertung ein, dass Senna sofort nach rechts lenkte, um etwas mehr Platz zu machen, als ihm bewusst wurde, dass Massa neben ihm daherkommt. Doch unabhängig davon führt dieser Fall wieder einmal eindrucksvoll vor Augen, wie schwierig es für die Rennkommissare sein muss, einerseits im Interesse des Sports und seiner Fans notwendiges Fingerspitzengefühl walten zu lassen, andererseits aber nicht gleichzeitig die Formulierung der Regeln zu verlassen, die für konstante Entscheidungen so wichtig sind...