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  • 21.07.2011 23:36

  • von Dieter Rencken

Neale: "Wie bei einem Patient im Krankenhaus"

Exklusiv: McLarens Team-Geschäftsführer Jonathan Neale spricht über Mensch und Material seines Rennstalls und gibt interessante Einblicke

(Motorsport-Total.com) - McLaren befindet sich 2011 in der Rolle des Verfolgers. Das britische Traditionsteam um Jenson Button und Lewis Hamilton startete mit einem Rückstand in die Saison, konnte in den vergangenen Rennen aber immerhin zweimal den Sieger stellen. Technische Regeländerungen sorgen indes dafür, dass die Mitarbeiter des britischen Unternehmens ständig mit neuen Lösungen aufwarten müssen. Jonathan Neale gibt im exklusiven Interview einen Einblick in einige internen Abläufe bei McLaren.

Titel-Bild zur News: Jonathan Neale

Team-Geschäftsführer Jonathan Neale spricht über die internen McLaren-Abläufe

Frage: "Jonathan, die Neuregelung für den auspuffangeströmten Diffusor wurde recht kurzfristig eingeführt. Was bedeutet das für die Teams und die Umsetzung dieser Regeln?"
Jonathan Neale: "In den vergangenen sechs Wochen spielte das eine große Rolle in unserer Planung. Es ist sehr schwierig, vorherzusehen, was passieren wird."

"Du kannst im Prinzip nur auf Basis der jeweils jüngsten Entscheidung arbeiten. Was auch immer wir beispielsweise im Zusammenhang mit dem auspuffangeströmten Diffusor mit den Einstellungen des Motors anstellen, müssen wir die Zuverlässigkeit überprüfen. Diese Thematik hat schließlich auch Auswirkungen auf das Triebwerk an sich."

"Das heißt: Wenn wir ein paar Faktoren verändern, müssen wir eigentlich mit Mercedes auf den Prüfstand gehen und die Lebensdauer sowie den Spritverbrauch des Motors checken. Verändern sich die Regeln danach erneut, beginnt das Spiel von Neuem. Darüber hinaus bekommt das Auto durch diese Änderungen eine andere aerodynamische Charakteristik. Wenn wir die Anströmung des Diffusors verändern, verändern wir nämlich zugleich die gesamte Balance des Fahrzeugs."

"Das Heck des Rennwagens hat dann weniger Abtrieb und dadurch ergeben sich andere Bremspunkte und dergleichen wie die Motorbremse, der Einsatz von KERS. Es ist nicht so, dass es mit einem kleinen Eingriff getan wäre. Veränderst du ein Teil, veränderst du das Gesamtbild. In dieser Hinsicht schlagen wir am liebsten den Pfad der Evolution ein, doch im Augenblick ist es anders."

Frage: "Ist es eine Art 'Panikreaktion', was ihr derzeit durchführt? Die Regeländerungen kamen kurzfristig und ihr müsst schnell reagieren..."
Neale: "Es war eine interessante Zeit. In den vergangenen sechs bis acht Wochen gab es sehr viele Veränderungen. Ich denke, da steht uns in Zukunft noch viel mehr ins Haus."

"Es war eine interessante Zeit..." Jonathan Neale

Frage: "McLaren musste vor dem Saisonauftakt schon einmal das komplette Auto umkrempeln, jetzt sind wieder größere Umbauten gefragt. Das ist sicher keine einfache Aufgabe..."
Neale: "Das ist wahr. Einfach ist das nicht, aber so läuft der Hase nun einmal. Man kann sich ja vorstellen, was in den Köpfen der Jungs in Woking vorgeht, wenn sie unsere Autos fahren sehen. Sie wissen: Okay, schon am Montag könnte es wieder anders aussehen."

Datenaustausch ist das A & O

Frage: "Die Regeln sehen vor, dass pro Team maximal 45 Ingenieure zum Einsatz kommen dürfen. Wie geht ihr damit um?"
Neale: "Eine handvoll unserer Ingenieure widmet sich den Motoren, was KERS mit einschließt. Das sind Leute von Mercedes, die mit uns zusammenarbeiten. Dann hätten wir Lewis' und Jensons Team an Ingenieuren um die Renningenieure und deren Assistenten."

"Darüber hinaus gibt es fünf Mechaniker pro Auto. Alle weiteren Positionen leisten Unterstützungsarbeit, wie zum Beispiel die Techniker, welche sämtliche Systeme und die Signale des Autos im Auge behalten. Man kann sich das so vorstellen, wie bei einem Patient im Krankenhaus. Wir tauschen die Daten natürlich untereinander aus."

Frage: "Wie muss man sich den Datenaustausch vorstellen?"
Neale: "Bis zum Start der Qualifikation herrscht vollkommene Transparenz. Die Jungs fahren hinaus und absolvieren Q1, ehe die Daten erneut ausgetauscht werden. Nach Q2 passiert das Gleiche noch einmal. Sobald das Rennen begonnen hat, besteht der Austausch nur noch darin, wann das jeweilige Fahrzeug an die Box kommen wird."

"Man kann sich das so vorstellen, wie bei einem Patient im Krankenhaus." Jonathan Neale

"Das hängt von der Position auf der Strecke ab und nicht von der Qualifikationsleistung. Wir teilen die Informationen über Benzinladung, Setup oder über die aerodynamische Konfiguration. Lewis und Jenson unterhalten sich darüber, wo auf der Strecke am meisten Grip ist. Wir versuchen einfach, die Ausbeute des gesamten Teams zu maximieren."

Frage: "Jenson und Lewis sind eine Fahrerpaarung, die gut miteinander auskommt. In der Vergangenheit gab es bei McLaren aber auch schon ganz andere Konstellationen..."
Neale: "Wir hatten eigentlich schon alle denkbaren Szenarien."¿pbvin|512|3893||0|1pb¿

McLaren plant zwei bis drei Rennen im Voraus

Frage: "Was passiert in diesem Fall? Werden die Daten trotzdem ganz normal ausgetauscht?"
Neale: "Im Augenblick pflegen wir einen intensiven Datenaustausch. Das liegt auch daran, dass wir unser Ingenieursteam am Ball bleibt. Man muss sicherstellen, dass die Jungs keine Informationen zurückhalten. Phil Prew hat als Chefingenieur in der Mitte unserer Boxenanlage den kompletten Überblick. Sein Job ist, für eine vollkommene Transparenz zu sorgen."

Frage: "Wenn der Fahrer über Funk gewisse Eigenarten der Strecke meldet, wird das dann ebenfalls in den Datenpool aufgenommen und entsprechend weitergereicht?"
Neale: "Der Fahrer würde sich in einem solchen Fall über Funk melden und sagen: 'In dieser und jener Kurve habe ich Probleme, die Bodenwelle in der einen Ecke ist besonders übel' und dergleichen."

"Sein Job ist, für eine vollkommene Transparenz zu sorgen." Jonathan Neale

Frage: "Wie bereitet ihr euch als Team auf ein Rennen wie den Großen Preis von Belgien in Spa-Francorchamps vor?"
Neale: "Dieses Rennen findet Ende August statt. Wahrscheinlich haben wir vor zwei Wochen damit begonnen, uns auf diesen Event vorzubereiten."

Frage: "Wie viele Wochen im Voraus plant ihr eure Renneinsätze?"
Neale: "Im Hinblick auf unseren Updateplan ist zu sagen, dass man schon vorab weiß, welche Events eine spezielle Upgradeversion erfordern. Monza und Monaco sind da die Paradebeispiele."

"Bei generellen Updates kommt es immer darauf an, wie rasch wir diese Entwicklungen an die Strecke bringen können. Unsere generelle Planung umfasst zwei bis drei Rennen, alles Weitere ist noch nicht so klar definiert. Wir planen gewissermaßen vier bis sechs Wochen voraus."

Frage: "Gibt es bei Überseerennen andere Regelungen?"
Neale: "Das hat keinen Einfluss auf die Planungen. Scherzhaft sagen wir dazu ja immer, dafür nehmen wir einige Teile im Handgepäck mit (lacht; Anm. d. Red.)."

Chefrenningenieur Philip Prew als "Zentrale"

Frage: "Was geschieht an einem Rennwochenende in der Teamzentrale in Woking?"
Neale: "Wir haben einen speziellen Raum in Woking, aus dem sämtliche Sessions an der Strecke live verfolgt werden."

"Wir sammeln die Daten von unseren Autos und beobachten auch die Fahrzeuge der Konkurrenz. Vor dem Renntag lassen wir Simulationen ablaufen. Sämtliche strategischen Entscheidungen kommen aus Woking und werden lediglich an die Boxenmauer weitergeleitet."

"Wir sammeln die Daten von unseren Autos und beobachten auch die Fahrzeuge der Konkurrenz." Jonathan Neale

Frage: "Wer ist für die strategischen Entscheidungen während eines Grand Prix' verantwortlich?"
Neale: "Was passiert, ist Folgendes: Phil Prew sammelt die Informationen der Fahrer und gibt diese Daten weiter an Tim Goss, der für das Engineering verantwortlich ist. Paddy Lowe ist für die technischen Abläufe und deren Qualität zuständig."

Frage: "Funktioniert diese Arbeitsweise für euch?"
Neale: "Nein, denn wir siegen ja nicht (lacht; Anm. d. Red.)."

Frage: "Nun, McLaren gewann bisher zwei Rennen und damit mehr, als alle anderen Teams - abgesehen von Red Bull..."
Neale: "Wie bei allen anderen System, so probierten wir auch aus, wie es ist, nur einen Technischen Direktor zu haben. Du schaust dir halt immer an, welche Fähigkeiten in deinem Team vorhanden sind und welchen Weg du optimalerweise damit einschlagen kannst. Man fragt sich: Ist das Modell mit Adrian Newey die ideale Herangehensweise?"

"Man fragt sich: Ist das Modell mit Adrian Newey die ideale Herangehensweise?" Jonathan Neale

"Nun, wenn Red Bull über Jahre mit ihm siegfähig ist, lautet die Antwort wahrscheinlich 'ja'. Wir sind aber unsererseits ebenfalls schon seit Jahren erfolgreich. Unser Credo sieht vor, eine Tiefenstärke zu haben. Das heißt: Es müssen frische Kräfte nachkommen, welche die Fähigkeiten von Grund auf erlernen."


Fotos: McLaren, Großer Preis von Großbritannien


McLaren arbeitet bereits am Auto für 2012

Frage: "Es brauchte sicherlich eine lange Zeit, um eine derartige Organisation aufzubauen..."
Neale: "So ist es. Vor allem die Entwicklung von einem einzelnen Entscheidungsträger zu einer auf diverse Personen verteilte Verantwortung ist sehr schwierig. Ist es besser? Das kommt darauf an. Es fehlt uns nicht an Entscheidungskraft. Wir wissen, was wir tun. In diesem Business kannst du dich nicht selbst betrügen, denn am Sonntag kommt die Wahrheit auf den Tisch."

Frage: "Welche Kommunikationskanäle werden genutzt?"
Neale: "Wie haben ein Intercom-System und diverse Standleitungen, wobei wir von Vodafone unterstützt werden. Wo auch immer wir gerade sind, wir müssen einen zuverlässigen Datenaustausch haben - in Echtzeit."

"Wo auch immer wir gerade sind, wir müssen einen zuverlässigen Datenaustausch haben." Jonathan Neale

Frage: "Sprechen wir über den Arbeitsaufwand: Wie viele Energien fließen derzeit in den aktuellen Rennwagen und wie intensiv arbeitet ihr bereits am Auto für 2012? Wann erfolgt der komplette Umstieg auf den Neuwagen?"
Neale: "Sobald die Rennen dieser Saison abgeschlossen sind, arbeitet eine handvoll Leute an den Konzepten weiter."

"Das geschieht im Hinblick auf ehrgeizigere Projekte der kommenden Jahre. Ich denke, mit dem aerodynamischen Grundkonzept eines Autos beschäftigen wir uns etwa ab Juni. Bis September oder Oktober arbeitet der Großteil der Mitarbeiter jedoch noch am aktuellen Projekt."

Frage: "Wann wird das neue Auto schließlich aufgebaut?"
Neale: "Das erste Chassis trifft für gewöhnlich kurz vor Weihnachten in der Konstruktionssektion ein. Das wäre also etwa Mitte Dezember."

Button & Hamilton als ideales Fahrerduo

Frage: "Zu welchem Grad entwickelt ihr ein Fahrzeug nach den Vorlieben eines bestimmten Fahrers?"
Neale: "Das kommt ganz darauf an, wer für uns fährt. Als wir mit Kimi Räikkönen und Juan Pablo Montoya antraten, hatten wir es mit zwei total unterschiedlichen Piloten zu tun. Das war eine sehr große Herausforderung für uns, denn sie brauchten unterschiedliche Voraussetzungen."

"Bei Jenson und Lewis ist das anders, auch wenn der eine einen ruhigen Fahrstil pflegt, der andere etwas mehr rutscht. Die Basisabstimmung ist aber ähnlich. Im Augenblick befinden wir uns dahingehend in einer glücklichen Lage, die hoffentlich noch geraume Zeit anhält."

"Die Basisabstimmung ist ähnlich." Jonathan Neale

Frage: "Wie war es zum Beispiel bei Fernando Alonso und Lewis Hamilton?"
Neale: "Fernando hatte im Prinzip von Anfang an das Sagen, was das Auto anging, wo es doch Lewis' Debütjahr war. Lewis ist aber dazu in der Lage, in der Qualifikation an einem guten Tag noch einmal eine halbe Sekunde mehr aus dem Auto zu holen. So, wie er als Fahrer dazulernte, lernten wir als Team über ihn als Fahrer."

"Jenson brachte viel Erfahrung und Wissen mit, denn vor seiner Zeit bei McLaren fuhr er mit sehr guten Fahrzeugen, aber auch mit schlechten Autos. Er gibt ein sehr gutes und ausgewogenes Feedback. Das kam und kommt uns zugute. Ich denke, er fährt nun auch besser."

Frage: "Wie gelingt es einem eurer Ingenieure, auf solche Ideen wie den F-Schacht zu kommen?"
Neale: "Es läuft so ab, dass jemand eine Idee hat und diese präsentiert. Es braucht aber das gesamte Team, um das Konzept auszuarbeiten und es in die Tat umzusetzen. Eine einzelne Person mag vielleicht der Anstoßgeber sein, doch nur durch das gesamte Team ist so etwas auch umsetzbar."

"Es braucht das gesamte Team, um das Konzept auszuarbeiten und es in die Tat umzusetzen." Jonathan Neale

Frage: "Zum Schluss noch ein kurzer Exkurs: Ist das Konzept des V6-Motors etwas, womit ihr euch in Zukunft anfreunden könnt?"
Neale: Ja. Ein V6-Motor ist ein gutes Format. Ich bin sehr zufrieden damit."

Frage: "Welcher dieser drei Faktoren zeichnet am meisten für die Show 2011 verantwortlich: KERS, der verstellbare Heckflügel oder die stark nachlassenden Pirelli-Reifen?"
Neale: "Es sind die Reifen, gar keine Frage. Die Pneus machen wohl 60 Prozent aus, KERS vielleicht 30 Prozent und der Rest entfällt auf den verstellbaren Heckflügel, also zehn Prozent."