Michael: Hat Ferrari in Montreal den Sieg verschenkt?

McLaren-Sportdirektor Sam Michael glaubt, dass Ferrari ohne Strategiefehler auf Kurs zum Kanada-Sieg gewesen wäre und erklärt, wie man 2012 Champion wird

(Motorsport-Total.com) - Beim Grand Prix von Kanada platzte bei McLaren endlich der Knoten. Nach dem Auftaktsieg durch Jenson Button musste das Team aus Woking fünf Rennen lang auf einen Erfolg warten, doch in Kanada eröffnete endlich Lewis Hamilton sein Siegkonto 2012. Trotz eines weiteren verpatzen Boxenstopps war der Triumph diesmal auch auf eine starke Teamleistung zurückzuführen, denn während Fernando Alonso und Sebastian Vettel versuchten, mit nur einen Stopp durchzukommen, setzte Hamilton von Anfang an auf zwei Stopps.

Titel-Bild zur News: Sam Michael

Sam Michael wundert sich, warum die anderen Topteams patzten

Ex-Williams-Technikchef Sam Michael, der seit diesem Jahr bei McLaren als Sportdirektor fungiert, lobt seine Truppe gegenüber 'Skysports.com': "Zwischen den Autos von Sebastian, Fernando und Lewis war an diesem Wochenende nicht mehr als ein Zehntel Unterschied, also gewannen wir wegen der Strategie und wegen des Reifen-Managements - und natürlich, weil die Fahrer Vollgas gegeben haben. Es ist schön, sich einen Sieg so verdient und nicht von jemandem geerbt zu haben."

Hat Ferrari Siegchance verschenkt?

Dennoch ist ihm bewusst, dass der Sieg an einem seidenen Faden hing, denn hätte sich Fernando Alonso nicht bei der Strategie verpokert, ware es für McLaren vermutlich eng geworden. "Nach dem zweiten Stopp waren wir ihnen ausgeliefert", gibt der Australier offen zu. "Insgesamt waren die Stopps fantastisch, aber bei diesem einen Stopp hatten wir ein Problem mit dem rechten hinteren Schlagschrauber. Das hat uns über eine Sekunde gekostet. Hätte Fernando seinen zweiten Stopp eine Runde nach Lewis absolviert, anstatt durchfahren zu wollen, dann wäre die Wahrscheinlichkeit extrem hoch gewesen, dass er vor uns wieder aus der Box kommt."

Doch Ferrari versuchte, Alonso trotz verschlissener Reifen in Führung liegend über die Distanz zu bringen - ein Plan, der nicht aufging. Für Michael kein Wunder: "Unsere Strategieexperten hatten eine Woche vor Montreal ausgerechnet, dass eine Zweistopp-Strategie für die schnellen Autos die konkurrenzfähigste Strategie ist, ein Stopp hingegen für die Mittelfeld-Autos am konkurrenzfähigsten ist, schließlich wirken bei ihnen weniger Kräfte, weil sie langsamer fahren und dadurch weniger Reifenverschleiß haben als die Spitzengruppe. Unsere Strategieabteilung prophezeite also, dass es für ein Spitzenteam nicht möglich sein würde, mit einer Einstopp-Strategie konkurrenzfähig zu sein."

"Unsere Strategen prophezeiten, dass es für ein Topteam nicht möglich sein würde, mit einem Stopp konkurrenzfähig zu sein." Sam Michael

Als Red Bull und Ferrari dann aber einen anderen Weg gingen als von Michael & Co. erwartet, war die Verwunderung am McLaren-Kommandostand groß. Daher führt er den Sieg nicht auf eine geniale Strategie seines Teams zurück: "Wir haben einfach das getan, womit wir bei allen gerechnet hätten. Es war kein Goldgriff - wir dachten, dass diese Herangehensweise eigentlich klar sein müsste."

Warum Button in Montreal schwächelte

Im Gegensatz zu Hamilton erlebte Teamkollege Button in Kanada einen weiteren Saisontiefpunkt. Der Brite fuhr dem Feld hinterher und blieb einmal mehr ohne WM-Punkt. Damit hat er in den vergangenen vier Rennen nur zwei Zähler eingefahren - eine bittere Bilanz für einen Fahrer, der nach dem ersten Saisonrennen als Titelfavorit gehandelt wurde.

Doch Michael sieht die Schuld dafür zu einem beträchtlichen Teil beim Team. Nachdem Button am Freitag wegen technischer Probleme kaum zum Fahren gekommen war, ging man bei McLaren volles Risiko, um die Abwärtsspirale endlich umzukehren: "Wir probierten ein paar Dinge bei seinem Setup, um ein paar Bereiche zu erforschen, und im Nachhinein hätten wir das wahrscheinlich nicht tun sollen." Das wirkte sich negativ auf den Reifenverschleiß aus. Laut Michael hat das Team seine Leeren aus den Fehlern gezogen: "Wir haben die Gründe glaube ich verstanden, und das können wir bis Valencia problemlos ausmerzen."

Michael lobt Buttons Umgang mit der Krise

Michael glaubt weder, dass Button das Fahren verlernt hat, noch ist er der Meinung, dass der Brite in Sachen Setup sensibler als sein Teamkollege ist: "Meistens fahren sie sogar das gleiche Setup - mit ein paar kleinen Unterschieden, die auf einen etwas unterschiedlichen Fahrstil zurückzuführen sind."

Der McLaren-Sportdirektor ist sich sicher, dass sich Button mit seiner positiven Einstellung selbst aus der Krise ziehen wird: "Selbst in der aktuellen Situation, wo er unter Druck ist, lässt er das niemanden spüren. So war er immer - ganz egal ob er gewann oder Probleme hatte. Derzeit glaube ich profitiert er davon, und ich denke, dass es sich um eine sehr nützliche Eigenschaft handelt. Das ist eine seiner Stärken, und er glaubt sehr stark an seine Fähigkeiten - er ist ja nicht umsonst ein Weltmeister. Zudem befindet er sich nach wie vor klar im Titelrennen, und das weiß er."

"Selbst in der aktuellen Situation, wo Jenson unter Druck steht, lässt er das niemanden spüren." Sam Michael

Konstanz als Titelrezept?

Dennoch muss der Routinier bald in die Erfolgsspur zurückfinden, denn die Führenden in der Weltmeisterschaft zeichneten sich bisher durch eine enorme Konstanz aus, auch wenn Siegesserien bisher ausblieben. Michael glaubt, dass die Konstanz auch der Schlüssel zum WM-Triumph sein wird: "Diese Weltmeisterschaft wird durch Konstanz entschieden, und es kann gut sein, dass der Weltmeister am Ende nur ein oder zwei Siege haben wird. Es ist sogar möglich, dass er gar kein Rennen gewinnen wird, obwohl ich das nicht glaube, da wir schon so viele Sieger hatten." Dennoch sei es am Wichtigsten, "keine Ausfälle zu haben. Wenn man Ausfälle hat, dann ist man in großen Problemen."

Daher darf auch McLaren im Entwicklungsrennen auf keinen Fall den Anschluss verlieren - und das bedeutet folgendes: "Man muss auf jeden Fall ein Zehntel pro Rennen schneller werden, damit man nicht an Boden verliert. Alles, was über ein Zehntel hinausgeht, bringt dich vor die anderen Jungs." Seiner Meinung nach werden die Reifen weitehrin eine "ebenso wichtige" Rolle wie die Fahrzeugentwicklung spielen.