• 10.11.2016 16:59

  • von Gary Anderson (Haymarket)

Gary Anderson antwortet: Warum soll Brawn zurückkommen?

Technikexperte Gary Anderson lüftet Formel-1-Geheimnisse und erklärt, warum das Abschaffen blauer Flaggen ein Schlüssel auf dem Weg zu mehr Rennaction sein soll

(Motorsport-Total.com) - Warum sind die neuen Formel-1-Besitzer darauf erpicht, Ross Brawn als Berater an Bord zu holen? Und was führt in der kommenden Saison zur ersten großen Kontroverse unter den Teams? Unser Experte Gary Anderson, der als Technikchef für Jordan arbeitete und über mehr als 30 Jahre Erfahrung in der Königsklasse verfügt, versucht diese Fragen zu beantworten. Keinen Reim kann er sich allerdings darauf machen, warum die Teams im Freien Training immer freie Fahrt wollen.

Titel-Bild zur News: Ross Brawn

Ross Brawn könnte als kluger Manager die Formel 1 voranbringen Zoom

Anthony Durkin (Facebook): "Was hältst du davon, dass Ross Brawn als Formel-1-Berater für Liberty Media arbeiten könnte? Ist es nur die erste Stufe auf dem Weg dahin, Bernie Ecclestone zu ersetzen?"
Gary Anderson: "Ross bringt jede Menge Erfahrung mit - sowohl technischer Natur als auch in geschäftlichen Belangen. Als erfolgreicher Technikchef und Teambesitzer kennt er beide Seiten. Er war bei Benetton, Ferrari, Honda und Mercedes. Es ging dort um den Erfolg, aber Geld war nie ein Thema. Als er bei BrawnGP in der Verantwortung stand, musste er mit seinem Budget das Optimum herausholen. Daran sollte auch Liberty Media gelegen sein. Wenn sie ihm zuhören, ihn verstehen und seine Ratschläge beherzigen, könnte die Formel 1 sich grundlegend verbessern."

"Es könnten mehr Teams dazu in der Lage sein, das Budget aufzubringen, das es braucht, um stabil und konkurrenzfähig zu sein. Derzeit ist das Modell zu fragil. Es muss finanziell verbessert werden, damit Investoren zuversichtlicher sind und in dem Wissen, dass Erfolge möglich sind, bei Teams einsteigen. Derzeit tobt ein Ausgabenkrieg zwischen den Schwergewichten. Die kleinen Teams schwimmen mit und hoffen, dass sie durch ein Wunder vernünftige Ergebnisse einfahren. Wenn sie an einem Wochenende richtig Glück haben."

"Ross hat zahlreiche Stärken. Er ist eher Technischer Manager als Technikchef. In den Jahren nach dem Tod Ayrton Sennas installierte die FIA eine Technische Arbeitsgruppe (Technical Working Group, kurz TWG; Anm. d. Red.) mit einem Vertreter eines jeden Teams. Es ging darum, die Sicherheit zu verbessern. Wenn es mehr Informationen über den Einfluss einer Idee auf unser Design brauchte, ging Ross immer raus und rief den Verantwortlichen im Team an - weil der Rest von uns hier und da eine vernünftige Antwort wusste. Er managte die Technik, war aber nicht Dreh- und Angelpunkt. Jeder Job in der Formel 1 erfordert es, mit vielen Leute zusammenzuarbeiten und ihre Situation zu verstehen. Das ist einer seiner großen Vorzüge."


Fotostrecke: Alle Sieger unter Ross Brawn

Jonathan Wingfield (E-Mail): "Warum dürfen Formel-1-Autos eine Servolenkung haben? Wäre es nicht gut für das Racing, wenn sie verboten wäre und würde das Fahren wieder physisch anstregender machen?"
Anderson: "Formel-1-Autos zu fahren ist noch immer ziemlich anstrengend. Das hat mit der Lenkeingabe und den Bremskräften zu tun. Die Lenkung muss dem Piloten das unterschiedliche Gripniveau verschiedener Reifen suggerieren. Das ist der Anhaltspunkt, dass er versteht, was das Auto tut. Bei zu vielen Eingriffen der Technik würde der Fahrer nicht mehr durchblicken Bei zu wenigen ginge es nur noch darum, wer die dicksten Oberarme hat, um das Lenkrad drehen zu können."

Jackie Stewart, Jim Clark, Drift, Slide

Ohne Servolenkung: Früher war Fahren noch echte Handarbeit Zoom

"Würde man die Servolenkung verbieten, müssten die Ingenieure an der Lenkgeometrie, dem Nachlauf, der Ausrichtung und dem Versatz des Achszapfens sowie an weiteren Parametern Hand anlegen. Das Ergebnis wäre eine Lenkung, die genauso viel wiegen würde wie die aktuelle. Als es früher Aluminiumchassis gab, hatte ich mit Autos zu tun, deren Lenkung viel zu schwergängig war. Folglich entschied der Fahrer am Kurveneingang, wie weit er einschlagen wollte und musste dabei bleiben. Als Druck auf dem Auto war, gab es keine Chance mehr, den Lenkwinkel zu verändern."

Martin Zustak (E-Mail): "Hast du als Ingenieur ein Lieblingsbauteil an einem Formel-1-Auto?"
Anderson: "Ich mag effiziente Technik. Anders gesagt: Wenn eine Komponente zwei oder mehr Aufgaben erledigt. Das ist sehr befriedigend. Als ich in den Job eingestiegen bin, wusste niemand sehr viel über Aerodynamik. Im Laufe der Zeit fing sie an, alles zu dominieren. Es ist die Aerodynamik, an der ich am meisten Freude habe. In den Siebziger- und Achtzigerjahren standen nur sehr wenige Windkanäle zur Verfügung. Ich habe also aus dem Feedback der Piloten gelernt."

"Das war mit einer Menge Kopfschmerzen verbunden. Wenn man aber die Mittel hat, ein Bauteil zu überprüfen, ehe man damit auf die Strecke muss, ist es eine Erleichterung. Aber wir haben so häufig erlebt, dass Teams eines entwickeln und es doch nicht funktioniert. Das liegt daran, dass viele nicht um so viele Ecken denken, sondern einfach dem CFD (Simulations-Supercomputer; Anm. d. Red.) oder dem Windkanal vertrauen. Es wird immer Fragezeichen geben, ehe es auf die Strecke geht."

Micah Hill (Facebook): "Wie entscheiden Formel-1-Teams, wenn es um das Einstellen des Neigungswinkels, der Rollachse und der Schwinge der Radaufhängung geht? Inwiefern genießt es Vorzug vor der Aerodynamik?"
Anderson: "Die Aufhängungsgeometrie basiert auf jahrelanger Erfahrung. Die Teams 'spielen' jedes Jahr damit, was sie in der vorangegangen Saison erarbeitet haben. Sie erhoffen sich, dass das Auto die Reifen besser aufwärmt, sie weniger körnen und verschleißen. In Wirklichkeit aber bewirken Verbesserungen bei der Aerodynamik für diese Faktoren mehr als alles, was man mit kleinen Änderungen an der Aufhängungsgeometrie bewerkstelligen kann."

"Die Teams basteln eher daran, dass sich das Auto weniger neigt als an der Länge der Schwingen oder der Rollachse. Ist die Neigung beim Lenken besser unter Kontrolle, bleibt mehr Raum, um auf einer konstanten Aerodynamik-Basis zu arbeiten. Daher ist 2017 so interessant: Die Reifen werden breiter und sind für das allgemeine Gripniveau von größerer Bedeutung, besonders in langsamen Kurven. Daher werden sich die Teams überlegen, wie viel Zeit sie in das Konzept investieren."

Naim Haffejee (Twitter): "Warum hat Ferrari Probleme bei höheren Streckentemperaturen?"
Anderson: "Wüsste ich das, hätte ich bei Ferrari einen Schreibtisch neben dem von Rory Byrne. Wenn die Streckentemperaturen steigen liegt das an höheren Außentemperaturen. Die meisten Autos brauchen dann größere Lüftungsschächte, was dramatisch Einfluss auf die Aerodynamik ausüben kann. Höhere Streckentemperaturen verändern auch die Wirkung von Bauteilen auf den Ground Effect - zum Beispiel beim Frontflügel, dem Unterboden oder dem Diffusor. Das ist davon abhängig, bei welchen Temperaturen die Teile sonst getestet werden."

Kimi Räikkönen, Sebastian Vettel

Kimi Räikkönen und Sebastian Vettel leiden, wenn es heiß wird Zoom

"Ich hatte mit Teamchefs zu tun, die nach jedem Windkanal-Test bessere Aerodynamik-Werte sehen wollten. Da musste man einfach etwas riskieren. Klar ist aber: Man findet lieber heraus, wie Teile grundlegend funktionieren, als einfach hinzunehmen, dass sie nach einem einzigen Versuch besser sind. Wenn man Aerodynamik-Teile genehmigt, dann ist die Frage, welche Luftdichte und welche Temperatur als Referenz dienen. Manche Teams betrügen sich selbst, indem sie niedrige Temperaturen und hohe Dichten nutzen, das Modell aber nicht mit Werten aus Freien Trainings vergleichen. Sie werden besser, aber die Verbesserungen sind kurzlebig. Manches oder alles davon könnte Ferraris Leistungen inkonstant machen."

James Frankland (Twitter): "Was könnte 2017 zur ersten großen Kontroverse führen?"
Anderson: "Formel 1 und Kontroverse, wie passt das denn in einen Satz?! Ich denke, es könnte darum gehen, dass den Teams, die die ersten Pirelli-Reifentests bestritten haben, vorgeworfen wird, sie würden die Daten nicht zugänglich machen. Es spielt keine Rolle, ob man weiß, welche Reifen auf den Achsen sind. Die Rückmeldung der Piloten und die Veränderungen beim Bremsen, beim Richtungswechsel sowie beim Beschleunigen helfen zu verstehen, was sich verändert hat. Vage Informationen sind immer noch Informationen. Keine Informationen sind keine Informationen."


Fotos: Pirelli-Reifentest in Fiorano


Jens Laursen (Facebook): "Warum wollen die Teams in den Freien Trainings unbedingt perfekte Runden ohne Verkehr? In einem Rennen wird es immer Verkehr geben. Wie kann das also helfen?"
Anderson: "Darüber wundere ich mich auch. Die Leistung von Auto und Reifen werden massiv davon beeinflusst, ob man im Verkehr steckt. Für mich wäre es repräsentativer, am Freitag und am Samstag unter den Bedingungen zu fahren, wie sie einem gerade begegnen. Das ist besser, als den wenigen freien Runden hinterherzujagen. Wenn man Abstand nimmt, um freie Fahrt zu haben, verwässert auch noch die Reifendaten. Vielleicht denken die Teams, sie machen einen auf Mercedes und verduften, ohne ein Auto zu sehen, ehe sie die Hinterbänkler überrunden, die ohnehin die blaue Flagge bekommen?"

Pascal Wehrlein

Pascal Wehrlein und Co. würden sich über das Abschaffen blauer Flaggen freuen Zoom

"Vielleicht wäre das Abschaffen der Blauen Flaggen oder sie erst zu zeigen, wenn ein Führender drei bis fünf Runden hinter einem Hinterbänkler fährt, eine Lösung. Dann würden eher Autos designt, die im Verkehr schnell sind. Es könnte auch dazu führen, dass Sebastian Vettel nicht mehr den Drang verspürt, langsamere Piloten öffentlich anzuprangern statt die Arschbacken zusammenzukneifen und ein Überholmanöver zu planen. Sie haben ja auch noch den DRS-Vorteil. Als die Fahrer noch Fahrer waren, sind sie einfach damit klargekommen."

David Bates (E-Mail): "In einer der jüngsten Ausgaben dieser Serie ging es um Temperaturen beim Bremsen. Wie heiß sind bestimmte Autoteile wie Öl, Wasser oder Motor? Und wie lässt sich das alles kontrollieren?"
Anderson: "Das ist eine der wichtigsten Aufgaben, wenn man konkurrenzfähig sein will. In den Neunzigerjahren wollten Teams aerodynamisch effizienter sein und haben die Kühlschächte verkleinert. Denn die Luft, die zur Kühlung eingesetzt wird, kann nicht genutzt werden, Abtrieb zu generieren. Die Motorenleute bekamen Druck. Sie sollten Motoren bauen, die bei höheren Temperaturen funktionieren. Renault sprang sofort auf den Zug auf und baute Motoren, die bei 150 bis 160 Grad Celsius Wassertemperatur funktionierten."

Alain Prost

Goldenen Zeiten bei Renault: Die Franzosen zockten mit Motortemperaturen Zoom

"Das wurde sogar gefährlich. Der Druck im System, der nötig war, um das Aufkochen des Wassers zu verhindern, wurde so hoch, dass die Kühler versagten. Dazu verbrühten sich auch noch Leute wegen der hohen Temperaturen. Die FIA schritt ein und zwang die Teams, ein Überdruckventil in das Wassersystem einzubauen. Es wird für rund drei bar eingestellt, was es erlaubt, bei 125 bis 130 Grad ohne Aufkochen zu fahren. Die Motoren brauchen aber Temperaturen um die 80 Grad, um überhaupt gestartet werden zu können. Deshalb werden sie in der Box an ein Heizaggregat angeschlossen. Eine Papiertüte oder ein Abreißvisier im Kühlungsschacht würde dazu führen, dass das Überdruckventil auslöst und Wasser oder Luft aus dem System austritt. So oder so ist das Auto ganz schnell kaputt."