1988: Eine WM-Entscheidung für die Ewigkeit

Der Titel-Showdown 1988 birgt erstaunliche Parallelen zu 2016: Wieso bei McLaren Verschwörungstheorien die Runde machten und Ayrton Senna so unbeliebt war

(Motorsport-Total.com) - Normalerweise lassen wir in unserer Rubrik "Ein Grand Prix für die Ewigkeit" ein historisches Rennen und vor allem dessen Hintergründe aus jenem Land Revue passieren, in dem der kommende WM-Lauf stattfindet. Da die Auswahl bei Abu Dhabi begrenzt ist, haben wir uns in Anbetracht des Titelfinales zwischen Nico Rosberg und Lewis Hamilton entschlossen, die Titelentscheidung des Jahres 1988 zu beleuchten, als mit Ayrton Senna und Alain Prost ebenfalls zwei Teamkollegen aufeinandertrafen.

Und sind bei der Recherche auf einige Überraschungen gestoßen. Denn im letzten Turbo-Jahr der Formel-1-Geschichte vor der Wiedereinführung im Jahr 2014 gab es mehr Parallelen mit der gegenwärtigen Königsklasse des Motorsports als man glauben mag.

Zur Ausgangslage: Vor dem vorletzten Saisonrennen in Suzuka lag Prost zwar in Punkten 84:79 in Führung, doch durch das unübersichtliche System Streichresultate war der damals zweimalige Weltmeister zum Siegen verdammt. Bei einem zweiten Platz Sennas hätte der Franzose auch das Saisonfinale in Adelaide gewinnen müssen. Bei einem Sieg Sennas oder einem Podestplatz vor Prost wäre der Titelkampf bereits für Senna entschieden gewesen.

Honda: Fiese Tricks für Titelentscheidung beim Heimrennen?

Und wie heute Mercedes war McLaren vor allem wegen des Hightech-Motors von Honda drückend überlegen. Abgesehen von Gerhard Bergers Ferrari-Sieg in Monza hatten McLaren-Neuling Senna und Prost alle Rennen für sich entschieden. Ausgerechnet in der Endphase mehrten sich die Spekulationen, wonach der Titelkampf von den Japanern manipuliert werde.

McLaren, 1988

Trickste Honda beim Ladedruck, damit die WM beim Heimrennen entschieden wird? Zoom

Die Japaner sollen Senna in Jerez und Estoril absichtlich gebremst haben, damit der Titelkampf beim Honda-Heimspiel in Suzuka entschieden wird. Tatsächlich war der sonst so starke Brasilianer bei den Rennen auf der iberischen Halbinsel überraschend schwach gewesen und hatte nur die Plätze sechs und vier erreicht. Der Vorwurf: Honda stellte bei Senna in den Rennen einen niedrigeren Ladedruck ein.

Balestre forderte in Brief gleiches Material von Honda

Laut Ex-McLaren-Pilot Niki Lauda alles Blödsinn: "Wenn einer so intensiv wie Senna mit den Technikern zusammenarbeitet, dann kommt der Fahrer sicher durch seine Recherchen drauf, wenn man gegen ihn ein Komplott schmiedet. Wenn ich einen höheren Spritverbrauch habe, so lasse ich mir nach dem Rennen ausrechnen, was der Prost für einen Ladedruck gefahren ist. Ich glaube nicht, dass bewusst manipuliert wird."

Das erinnert durchaus an Hamiltons laut ausgesprochene Gedanken, wonach beim Motorschaden von Malaysia und anderen Defekten in dieser Saison nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Die Honda-Gerüchte zogen damals weite Kreise: Vor dem Rennen schrieb der damalige FISA-Boss Jean Marie Balestre sogar einen Brief, in dem er an die Japaner appellierte, den beiden Kontrahenten gleiches Material zur Verfügung zu stellen.

FIA

Fairplay: FISA-Präsident Balestre setzte Honda per Brief unter Druck Zoom

Die Trainings und das Rennen machten nicht den Eindruck, als wäre irgendetwas krumm gelaufen: Bei den Geschwindigkeitsmessungen waren die beiden McLaren-Stallrivalen meist nur durch ein bis zwei km/h getrennt.

"Grenzgänger" Senna in der Favoritenrolle

Doch wie war die Stimmungslage vor dem möglicherweise entscheidenden Wochenende der Saison 1988? Senna war für die meisten Experten der Favorit. Nicht nur, weil die Ausgangslage für ihn sprach, sondern auch, weil der damals 28-Jährige aus Sao Paulo für seinen Willen bekannt war, alles für den ersten WM-Triumph zu tun, während Prost bereits zwei Titel auf dem Konto hatte.

Lauda verglich damals das Duell der beiden mit seinem letzten Titelkampf im Jahr 1984 gegen den damals noch jungen Prost. Als Routinier habe er schlicht nicht mehr so viel Risiko genommen wie Prost und dadurch im Qualifying meist das Nachsehen gehabt.

"Senna hat eine andere Haftgrenze als Prost, auch weil er noch kein großes Bankkonto hat." Niki Lauda

"Wahrscheinlich, weil ich irgendwo einen Millimeter vom Gas gegangen bin, weil ich dachte, die Haftgrenze ist erreicht", erklärte der heutige Mercedes-Aufsichtsratsvorsitzende gegenüber 'motorsport aktuell'. "Senna hat heute eine andere Haftgrenze, aufgrund seiner Person, seines Lebens, der Tatsache, dass er noch nicht Weltmeister war, dass er noch kein großes Bankkonto hat. Das alles spielt eine Rolle. Der andere hat alles und denkt im Unterbewusstsein ständig daran - weshalb muss ich mir das alles antun?"

Sennas Ruf: ein kalter, arroganter Renncomputer

Dass Senna, der sich in Suzuka die zwölfte von 14 McLaren-Poles holte, Prost dermaßen um die Ohren fahren würde, hatte Lauda vor der Saison nicht für möglich gehalten. "Für mich stand am Beginn des Jahres fest, dass Prost aufgrund seiner Erfahrung und seiner Kombination aus Speed und Intelligenz am Ende der Bessere sein wird. Ich habe mich aber total verschätzt, was das Potenzial des Senna angeht."

Während der in Imola tödlich verunglückte Superstar heute vielen als charismatische Persönlichkeit mit einem Sinn für Spiritualität in Erinnerung ist, war das mediale Bild damals komplett konträr. Er galt als introvertiert, kalt, fokussiert und eine Art Renncomputer. "Er gibt kaum etwas von seinem Innenleben preis", beschrieb ihn Österreichs Reporterlegende Helmut Zwickl damals in 'motorsport aktuell'. "Seine Gedankenwelt ist eine einzige Racing-Kassette, die er erst am Tage nach dem Rennen aus dem Kopf nimmt."

Ron Dennis, Gordon Murray, Ayrton Senna

Eiskalter, erfolgssüchtiger Technikfreak: Senna mit Ron Dennis und Gordon Murray Zoom

Und nicht einmal das ist gewiss, verriet Berger, der Senna bei den Silverstone-Tests beim Ausspionieren von Prost erwischte. "Wenn ich meine Testfahrten beende, dann übergebe ich mein Auto an Alboreto und fliege heim", erzählte er. "Der Senna aber übergibt an Prost und versteckt sich irgendwo auf der Strecke und beobachtet einen Tag lang seinen Teamgefährten, wie er fährt, wo er bremst, wo er schaltet." Eine Konsequenz, die heute auch auf Max Verstappen zutreffen würde.

Senna so isoliert wie heute Verstappen

Und noch eine Ähnlichkeit gibt es: Senna galt im Fahrerlager als isoliert, hatte sich mit seinem Auftreten kaum Freunde gemacht. "Er klopft keine originellen Sprüche wie Nelson Piquet, er hat nicht die Ausstrahlung von Niki Lauda, er hat nicht die Anziehungskraft eines Filmstars wie Alessandro Nannini, er ist nicht so beliebt wie Nigel Mansell. Er hat den Ruf eines arroganten Menschen", zeichnete Zwickl das damalige Stimmungsbild.

Hatte Senna damals Freunde? "Sehr wenige", schilderte Designer Gerard Ducarouge seine Erfahrung aus der gemeinsamen Lotus-Zeit. "Er stellt an sich unglaubliche Anforderungen, und das gleiche erwartet er von anderen Menschen." Auf seine wenigen Freunde konnte sich Senna aber laut dem Franzosen verlassen.

Alain Prost

Alain Prost musste sich 1988 gegen Senkrechtstarter Senna zur Wehr setzen Zoom

Berger und Senna hatten schon damals Sympathien füreinander, von einer Freundschaft konnte man aber noch nicht sprechen. Das galt schon eher für Landsmann Maurizio Gugelmin und Thierry Boutsen, der seinem Freund natürlich die Daumen drückte, allerdings nicht ganz uneigennützig.

Nur der engste Kreis kennt Senna wirklich

"Wenn er in Suzuka nicht Weltmeister wird, dann ist unser Urlaub beim Teufel", fürchtete der Belgier, der nach dem Suzuka-Wochenende gemeinsam mit dem McLaren-Piloten und dem McLaren-Fitmacher Joe Leberer eine Woche auf Bali gebucht hatte. "Mit Ayrton ist dann in dieser Woche nichts mehr anzufangen."

Seinem engsten Umfeld offenbarte Senna aber schon damals überraschende Seiten. "Einmal ist er auf eine Bühne gesprungen und hat vor versammeltem Publikum ein paar Witze zum besten gegeben", erzählte sein privater Fitnesscoach Pierre Balaydier.


Auszug aus dem Senna-Kinofilm über Suzuka 1988

Start in Suzuka: Für unausgeschlafenen Senna geht alles schief

Nach Witzen war Senna am Suzuka-Wochenende allerdings keineswegs zumute. Während Prost Magen- und Rückenprobleme hatte, kämpfte sein Gegner noch am Renntag mit dem Jetlag: "Ich habe nur eine halbe Nacht geschlafen."

Die Pechsträhne schien weiterzugehen: Als das Rotlicht der Ampel bei dunklen Wolken und leichtem Nieselregen ausging, rollte Pole-Setter Senna nur kurz an, würgte den Motor ab und riss dann aus Angst vor einem Auffahrunfall in Hände in die Höhe. Wie 2016 schien ein Fehlstart die WM zu entscheiden.

"Ich hatte den wichtigsten Start meines Lebens verhauen, den schlechtesten Start der Saison produziert." Ayrton Senna

"Jetzt ist alles vorbei", schoss es Senna durch den Kopf. "Ich hatte den wichtigsten Start meines Lebens verhauen, den schlechtesten Start der Saison produziert. Es war ein Produkt aus Kupplung und einem Fehler von mir." Doch wie durch ein Wunder konnten die heranrasenden Piloten ausweichen, und Senna nutzte die Bergab-Startziel-Gerade, um den Motor mit der Kupplung wieder in Gang zu kriegen.

March in Führung: Capelli sorgt für Sensation

Während Prost vor Berger und Überraschungsmann Ivan Capelli in Adrian Neweys March vorne wegfuhr, reihte sich Senna als 14. wieder ein, startete dann aber eine furiose Aufholjagd. Zu Beginn der vierten Runde hatte er sich schon wieder auf Platz vier nach vorne gearbeitet.

Trotz der perfekten Ausgangslage lief es für Prost nicht gut. Der Italiener Capelli überholte Vorjahressieger Berger, der mit dem Spritverbrauch kämpfte, fuhr die schnellste Rennrunde und machte Jagd auf den Führenden. Warum der March so gut lief? Die Turbomotoren waren im letzten Jahr ihrer Ära auf einen Ladedruck von 2,5 bar begrenzt worden, was den Turbo-Boliden in Suzuka im Vergleich zum Vorjahr mehrere Sekunden kostete. Ein Vorteil für den March mit Judd-Saugmotor.

Ivan Capelli

Ivan Capelli knöpfte Alain Prost im March sensationell die Führung ab Zoom

Und als Prost in Runde 16 bei zunehmendem Regen sogar kurz durch Überrundete aufgehalten wurde, nutzte Capelli seine Chance, überholte den Franzosen in der Zielkurve und sorgte so für die einzigen Führungskilometer eines Sauger-Boliden in der Saison 1988. Prost konnte aber mit Turbo-Boost in der ersten Kurve zurückschlagen und die alte Hackordnung wieder herstellen. Nach weiteren Überholversuchen rollte der Italiener drei Runden später mit einem Elektrikproblem aus.

Titelentscheidung: Überrundete bremsen Prost ein

Die Gefahr war aber nicht gebannt, denn der plötzlich auch unter Schaltproblemen leidende Prost musste zusehen, wie Senna mit Riesenschritten näher kam. In Runde 27 wurde Prost erneut ein zu Überrundender zum Verhängnis: Andrea de Cesaris, der bereits dafür bekannt war, selten in den Rückspiegel zu schauen. Senna nutzte die Chance und rang Prost auf der Start-Ziel-Geraden nieder.

Der McLaren-Pilot war beim Überrunden deutlich kompromissloser, wie Prost zugibt: "Ich habe einmal beim Überrunden in zwei Runden acht Sekunden auf Ayrton verloren." Das lag auch am Regen. Laudas Prognose, dass Senna durch seine Risikobereitschaft bei extremen Verhältnissen einen Vorteil hat, war eingetreten.

Senna zeigte aber Verständnis für Prost Ärger über die Nachzügler. "Diese Leute, für die es um nichts ging, haben uns nur blockiert", beschwerte sich der Draufgänger wie heute regelmäßig Sebastian Vettel. "Sie lassen dich nicht vor, sehen in keinen Rückspiegel." FISA-Präsident Balestre solle keine Briefe an Honda schreiben, sondern lieber "dafür sorgen, dass gleichwertige Fahrer in einem Formel-1-Feld herumfahren", legte sich Senna schon damals mit dem Weltverband an.

Hoffnungslos im Spritminus: Senna fällt das Herz in die Hose

Alles lief nun für Senna, doch auch für ihn war die Endphase keine Spazierfahrt. Einmal fürchtete er, ohne Sprit liegen zu bleiben, weil laut Boxentafel zwei Runden mehr zu fahren waren als laut Spritcomputer. "Das hieß, ich war hoffnungslos im Spritminus." Doch der Spuk hatte rasch ein Ende. "Die Box hatte sich kurzfristig verrechnet", erklärte Sennas Renningenieur Steve Nichols.

Als der Regen weiter zunahm, begann Senna fünf Runden vor Schluss wild zu gestikulieren und forderte einen Abbruch. Kein Wunder, schließlich hätte dies den vorzeitigen WM-Triumph bedeutet, doch die FIA blieb hart und reagierte nicht auf den aufgebrachten Leader. Prost war zu diesem Zeitpunkt ohnehin geschlagen und kam 13 Sekunden hinter Senna ins Ziel.

Ayrton Senna

Ayrton Senna bejubelt seinen ersten WM-Titel 1988 in Suzuka Zoom

"Ich gab unter diesen Bedingungen, wo wir mit Slicks auf regennasser Strecke herumrutschten, auf, wollt den Doppelerfolg im Honda-Land nicht gefährden, erklärte er. "Meine Schaltschwierigkeiten, die sehr früh in diesem Rennen begonnen haben, brachten es mit sich, dass ich alle zwei Runden irgendeinen Gang nicht mehr reinbrachte. Das Rennen war ohnehin verloren."

"Renncomputer" kämpft mit den Tränen

Senna, der kalte Renncomputer, wie er von vielen gesehen wurde, kämpfte währenddessen mit den Tränen. "Ich habe geweint, als ich durchs Ziel fuhr", gab er später zu, wie viel Druck auf ihm lastete. "Ein Bleigewicht ist von meinem Schultern gefallen." Er krönte sich mit seinem Triumph nach Emerson Fittipaldi und Nelson Piquet zum dritten Brasilianer, der den WM-Titel geholt hat.

Mit einer Konsequenz, die bis zu diesem Tage nie dagewesen war. Für Prost sogar eine Schwäche Sennas: "Ayrton ist ein paar Schritte zu weit gegangen. Ich bin davon überzeugt, dass er noch stärker wird, wenn er sich mehr entspannen kann, wenn er nicht mehr Tag und Nacht an Racing denkt."

Doch genau diese Kompromisslosigkeit Sennas sollte ein paar Monate später zu einer offenen Feindschaft zwischen den beiden führen: 1989 verletzte Senna beim Start einen Nichtangriffspakt mit Prost, was ihm der Franzose nicht verzieh. Ein Punkt, in dem sich Lauda geirrt hatte. Denn der Österreicher hielt die Stallrivalen noch 1988 für "zu intelligent, als dass sie sich verbale Schlammschlachten liefern."