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  • 19.07.2016 18:04

  • von Gary Anderson (Haymarket)

Frag Gary Anderson: Leisten Vettel und Räikkönen genug?

Formel-1-Experte Gary Anderson beantwortet Leserfragen: Welche Verantwortung tragen die Ferrari-Piloten dafür, dass man nicht auf Mercedes aufschließen konnte?

(Motorsport-Total.com) - Eigentlich wollte Ferrari in diesem Jahr den Großangriff auf Mercedes starten. Stattdessen wartet die Scuderia auch im Sommer noch immer auf ihren ersten Sieg 2016. Welchen Anteil haben die Fahrer daran, dass Ferrari seine selbstgesetzten Ziele bisher nicht erreichen konnte? Diese und weitere Fragen beantwortet der langjährige Formel-1-Designer Gary Anderson dieses Mal. Unter anderem beschäftigt er sich auch damit, wie man die Formel-1-Autos im Regen in Zukunft wieder fahrbarer machen könnte.

Titel-Bild zur News: Kimi Räikkönen, Sebastian Vettel

Müssten sich Kimi Räikkönen und Sebastian Vettel in Zukunft steigern? Zoom

Jay Menon (E-Mail): "Wie würdest du die Leistung von Sebastian Vettel bei Ferrari bisher einschätzen? Wie schlägt er sich im Vergleich zu Fernando Alonso, der mit seiner beharrlichen Entschlossenheit und Performance dafür gesorgt hat, dass auch ein schwächelndes Ferrari um Meisterschaften kämpfen konnte?"
Gary Anderson: "Ich muss sagen, dass ich von Vettel im zweiten Jahr bei Ferrari mehr erwartet habe. Er ist jemand, der das Auto verstehen muss, damit er schnell und effizient fahren kann."

"Ich glaube nicht, dass das Ferrari-Paket ihm dieses Jahr dieses Selbstbewusstsein vermittelt. Das Auto scheint einfach nicht konstant genug zu sein, weshalb er keinen Rhythmus findet. Du sagst ganz richtig, dass Alonso auch aus einem schwächeren Ferrari immer ein gutes Ergebnis rausholen konnte - außer in seinem letzten Jahr bei Ferrari, als er einfach die Nase voll hatte. Der wahre Maßstab ist Teamkollege Kimi Räikkönen, der allerdings zugegebenermaßen Höhen und Tiefen hat."

Alonso gegen Räikkönen (2014):
Rennen: 19
Qualifyingduell: Alonso 16:3 Räikkönen
Punkte: Alonso 161:55 Räikkönen
Punkte pro Zielankunft: Alonso 9,5:3,1 Räikkönen

Vettel gegen Räikkönen (2015-16):
Rennen: 29
Qualifyingduell: Vettel 22:7 Räikkönen
Punkte: Vettel 376:256 Räikkönen
Punkte pro Zielankunft: Vettel 15,7:11,6 Räikkönen

"Die Zahlen sprechen für sich. Man kann sehen, dass Alonso Ergebnisse in Relation zu Räikkönen stärker waren. Er hat fast dreimal so viele Punkte geholt und hat auch bei den Punkten pro Zielankunft einen ähnlichen Vorteil. Dagegen hat Räikkönen mehr als zwei Drittel der Punkte von Vettel während ihrer gemeinsamen Zeit bei Ferrari geholt."

Auch Räikkönen muss mehr bringen

Derek James (E-Mail): "Was hältst du davon, dass Ferrari Kimi Räikkönen einen neuen Vertrag gegeben hat? Ist es ein Zeichen dafür, dass das Team weiß, dass er noch immer abliefern kann, und dass in den vergangenen Jahren nur Pech bessere Ergebnisse verhindert hat?"
Anderson: "Ferraris Entscheidung, Räikkönen zu behalten, irritiert mich noch immer. Ja, sie wissen vermutlich, dass er bessere Ergebnisse geholt hätte, wenn er mehr Glück gehabt hätte."

"Fakt ist allerdings, dass er diese Ergebnisse eben nicht geholt hat. Die Frage ist also, was Ferrari 2018 und in den Jahren darauf machen wird. Momentan scheint Ferrari eine Flaute zu haben. Wenn die Zuverlässigkeit nicht ihr Problem ist, dann ist es das Aufwärmen der Reifen. Wenn beides kein Problem ist, dann sind es Fehler bei der Strategie oder - was in diesem Jahr schon bei Vettel und Räikkönen vorgekommen ist - Unfälle beziehungsweise andere Zwischenfälle."

"Kimi 2017 gegen einen Piloten auszutauschen, der gut auf einen Wechsel zu Ferrari reagiert hätte, hätte das Feuer bei Ferrari noch einmal entfacht. Eine Weile dachte ich, dass Nico Rosberg dorthin gehen sollte. Da er jetzt aber bei Mercedes zu bleiben scheint - und das sage ich ganz unverfänglich -, warum sollte man es da nicht einmal bei Valtteri Bottas versuchen?"


Fotostrecke: Ferrari-Designs in Rot und Weiß

"Er hat eine Menge Erfahrung, und wenn er die richtigen Mittel hatte, dann hat er auch die entsprechenden Ergebnisse eingefahren. Ich habe nichts gegen Räikkönen, aber durch ihre Entscheidung vermute ich, dass sie für 2018 jemanden in der Hinterhand haben, der im kommenden Jahr noch nicht verfügbar war. Die Frage ist: Wen...?"

Die Formel 1 und der Regen...

Phil Restas (E-Mail): "Wir alle glauben, dass es die Formel 1 dumm aussehen lässt, wenn die besten Fahrer der Welt nicht im Nassen fahren können. Das liegt zum Teil daran, dass sich die Fahrhöhe nur begrenzt verstellen lässt. Ist das ein technisches Problem, dass man lösen könnte, indem ein Teil der Aufhängung erweitert wird, wenn der Regenmodus bei der McLaren-ECU ausgewählt wird, um so die nötige Lücke für die Fahrhöhe zu schaffen?"
Anderson: "Es gibt viele Möglichkeiten, dieses Problem zu eliminieren."

"Wenn die FIA entscheiden würde, dass man die Kühlung verändert darf, wenn sich die Wetterbedingungen ändern, dann würde das den Teams auch ermöglichen, die Fahrhöhe und die Steifigkeit des Hecks anzupassen. Mit diesen beiden Anpassungen im Vergleich zum TrockenSet-up wären die Autos im Nassen viel fahrbarer. Es wäre keine Pflicht, aber den Teams die Möglichkeit zu geben, würde die Verantwortung für die Sicherheit in die Hände der Teams legen, und nicht in die der FIA."

"Wie du richtig sagt, könnte man langfristig einen einfachen Verstellmotor einführen, der nur über einen gewissen Hub verfügt, den alle Autos benutzen müssen. Noch besser wäre es, wenn man das schon 2017 erledigen würde, weil sich die Dimensionen der Reifen sowieso verändern. Wenn der Intermediate- und der Regenreifen einen größeren Durchmesser haben, kann jeder sein Auto daran anpassen."

"Außerdem könnten die Regenreifen damit mehr Wasser abtransportieren, was ebenfalls helfen würde. In Monaco haben wir allerdings gesehen, dass Lewis Hamilton von Regenreifen direkt auf Slicks wechselte, während andere einen Mittelstint auf Intermediates fuhren. Wenn der Reifen mehr Wasser verdrängen würde, würde das diese Strategieoption vermutlich ausschließen."

Nick Hipkin (Twitter): "Formel-1-Motoren schaffen theoretisch bis zu 15.000 Umdrehungen pro Minute, aber sie erreichen sie nie. Würden sechs statt acht Gänge dabei helfen, und würde der Sound dadurch lauter werden?"
Anderson: "Nick, der Benzinfluss ist auf maximal 100 Kilogramm pro Stunde begrenzt. Das ist nicht genug für 15.000 Umdrehungen. Es passiert Folgendes: Der Motor kommt nah an seine maximale Umdrehungszahl heran, die die 100 Kilogramm pro Stunde erlauben. Das sind 11.000, vielleicht 12.000."

"An diesem Punkt beginnt die MGU-H, den Turbo zurückzuhalten. Weil es kein Benzin und keine Luft mehr gibt, möchte der Motor nicht mehr höher drehen. Dadurch verhält sich die MGU-H wie eine große Lichtmaschine, die elektrische Energie erzeugt. Die wird entweder dazu verwendet, um die Batterie aufzuladen, oder - wenn das nicht notwendig ist - sie geht direkt in die MGU-K, um dem Verbrennungsmotor und dem ERS insgesamt mehr Power zu geben."

"Um diese Extrapower aufzunehmen, schaltet der Fahrer in einen höheren Gang, wodurch das Auto schneller fahren kann. Weil die MGU-H den Turbo zurückhält, wird der Sound des Motors reduziert. Es ist wie ein großer Schalldämpfer. Ich muss dazu sagen, dass ich in Silverstone war und mir das Training angeschaut habe. Ich denke, dass der Sound nicht so schlecht ist. Er ist ganz sicher besser als im vergangenen Jahr!"

@Curva130R (Twitter): "Wie offen steht die Tür für neue Materialien in der Formel 1 und im Motorsport generell? Irgendwelche Beschränkungen?"
Anderson: "Es gibt Beschränkungen beim Material, um Kosten zu sparen. Ansonsten würde jeder 'Unobtainium' suchen, ganz egal, wie viel es kostet. Dadurch würde die Schere zwischen arm und reich noch größer werden. Diese Lücke ist schon groß genug. Wenn man ein neues Material findet, das nachweislich kosteneffizienter als das aktuelle ist, wird die FIA es ganz sicher zulassen."

Alles eine Frage der Motivation?

James Carrell (Facebook): "Ich habe mich schon immer gefragt, ob und wann du einmal sehr schwierige Zeiten hattest. Gab es je einen Punkt, an dem du aufgeben wolltest? Was war deine Motivation, weiterhin bis ans Limit zu gehen?"
Anderson: "James, ich habe oft und aus verschiedenen Gründen ans Aufgeben gedacht. Die äußeren Einflüsse kotzen mich ziemlich an. Leute, die sich einmischen, obwohl sie keine Ahnung haben, wovon sie reden. Du kannst aber selbst nichts dagegen machen."

"Letztendlich hat das dazu geführt, dass ich meine Karriere als Designer und Ingenieur in der Formel 1 beendet habe. Wenn das Problem nur gewesen wäre, ein Auto zu bauen, das nicht so konkurrenzfähig war, wie es eigentlich sein sollte, dann wäre das frustrierend gewesen. In Wirklichkeit war das die Herausforderung in dem Job. Sobald du herausgefunden hattest, warum das Paket nicht so performt hat wie es sollte, konntest du einen Haken daran machen, und würdest diesen Fehler nicht wiederholen."

"Ich war immer sehr motiviert, aber ich glaube, dass die größte Motivation durch die Leute kommt, die im Management über uns stehen. Ich habe immer Verantwortung übernommen, und ich habe immer alles gegeben, um die Leute zu motivieren, die für mich gearbeitet haben. Ich habe immer versucht, meine Motivation aus meinen Bossen zu ziehen. Manche waren gut darin, wie Jackie Stewart, und anderen waren ziemlich schlecht."

"Davon gab es einige Beispiele im Jaguar-Team, das der Nachfolger von Stewart war. Bei Jordan war es etwas anders. Eddie (Jordan; Anm. d. Red.) und ich haben uns gegenseitig motiviert, aber Eddie wurde stark durch unseren Finanzchef beeinflusst, der ein ziemlicher Pfennigfuchser war. Deswegen hatte er immer das letzte Wort, was die Richtung beeinflusste, in die die Firma ging."

Henry Jones (E-Mail): "Welche Leute hatten den größten Einfluss auf dich und darauf, wie du die Dinge in deiner Karriere erledigt hast - und warum?"
Anderson: "Ich kam 1972 zum Motorsport und arbeitete in der Brabham-Fabrik, wo wir Formel-3- und Formel-2-Autos bauten. 1973 ergab sich ein Job beim Formel-1-Team, und ich dachte ungefähr zwei Nanosekunden darüber nach und sagte dann zu."


Fotostrecke: Turboauftakt garantiert WM-Titel

"Bei dem Job arbeitete ich sofort mit Bob Dance, einem der besten und erfahrensten Mechaniker in der Formel 1zusammen. Wir haben zusammen den ersten Gelenktransporter für Formel-1-Autos gebaut. Auf der mechanischen Seite hatte er einen großen Einfluss. Als ich anfing, am Auto zu arbeiten, war Gordon Murray unser sehr junger Chefdesigner, und ich war dieser unerfahrene irische Mechaniker, der den Wunsch hatte, Designer zu werden."

"Gordon hat all meine Fragen beantwortet - und ich hatte viele. Ich habe es nie gemocht, etwas zu tun, wenn ich nicht verstand, warum es gemacht wurde. Wenn ich einen anderen Ansatz hatte, dann habe ich das immer gesagt. Ich hatte nie Angst davor, wie ein Idiot auszusehen, wenn ich meine Meinung sage. Gordon war immer da, um Ideen abzuschmettern. Und wenn man sich die Autos anschaut, die er entworfen hat, wer hätte eine Karriere dann besser beeinflussen können?"