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  • 27.05.2016 08:25

  • von Gary Anderson (Haymarket)

Frag Gary Anderson: Wie gehen Teams mit Stallkriegen um?

Wie gehen echte Racer mit einer Stallorder um und was machen Teams, wenn Fahrer diese missachten? Formel-1-Experte Gary Anderson beantwortet Leserfragen

(Motorsport-Total.com) - Bei Mercedes hing nach dem Stallcrash in Barcelona wieder einmal der Haussegen schief. Obwohl Fahrer und Teams beteuern, dass es kein böses Blut gäbe und alles wieder in Ordnung sei, wissen nur wenige, wie es wirklich hinter den Kulissen aussieht. Formel-1-Experte Gary Anderson, der jahrzehntelang für Formel-1-Teams arbeitete und bei Jordan lange als Technikchef fungierte, kennt die Innenansicht eines Rennstalls und erklärt seine Sicht der Dinge. Zudem beantwortet er Leserfragen über seine Erfahrungen beim 500-Meilen-Rennen von Indianapolis und das immer größer werdende Gewicht der Formel-1-Boliden.

Titel-Bild zur News: Kamera, Nico Rosberg, Lewis Hamilton

Was läuft wirklich? Die Aussagen der Fahrer zeigen nicht immer die Realität Zoom

Marcus Bates (E-Mail): "Wenn ein Team sagt, dass zwischen den Fahrern alles in Ordnung ist, wie das bei Mercedes der Fall war, kann das überhaupt wahr sein? Was passiert hinter den PR-Kulissen?"
Gary Anderson: "Marcus, die Antwort ist ganz einfach: Nein. In jedem Teamsport ist der Teamkollege die erste Messlatte. Fahrer, die nette Jungs sind, kommen nicht durch. Dennoch muss man auch seinen Teamkollegen respektieren und verstehen, dass das Team größer als man selbst ist. In manchen Situation ist es die beste Strategie, einfach zu überleben."

"Ich bin nach wie vor der Meinung, dass Lewis Hamilton ahnen hätte können, was vor ihm passiert. Für ihn wäre es einfacher gewesen als für Nico Rosberg, etwas dagegen zu unternehmen. Rosberg wusste, dass er ein Leistungsproblem hatte und musste sich so breit wie möglich machen, so wie das jeder andere Fahrer gemacht hätte. Außerdem sind die Rückspiegel bei einem Formel-1-Auto sehr klein, und Hamilton war wahrscheinlich im toten Winkel von Rosberg."

"Man will seine Schmutzwäsche natürlich nicht in der Öffentlichkeit waschen. Daher hat die Führungsebene sicher ein Meeting mit den Fahrern abgehalten und ihnen ihren Standpunkt klargemacht. Danach liegt es an den Fahrern, zu akzeptieren, dass das Team vor ihnen selbst in der Prioritätenliste kommt."

Was Williams mit dem Test-Heckflügel wollte

John Stokes (E-Mail): "Was hältst du vom Williams-Heckflügel, den wir bei den Barcelona-Tests gesehen haben? Laut dem Team haben sie ihn eingesetzt, um deren aktuelle Schwächen zu verstehen."
Anderson: "Wenn das Team glaubt, dass es an Abtrieb mangelt und die Performance in einem Rennstint deswegen schlechter wird, dann kann man diese Theorie nur überprüfen, indem man mehr Abtrieb draufpackt. Das Reglement sorgt dafür, dass die aktuellen Autos in Barcelona mehr oder weniger mit dem maximalen Abtrieb fahren."

"Ein Test, ob man noch mehr Abtrieb benötigt, ist also nur möglich, wenn man etwas macht, was außerhalb des Reglements liegt. Diese Flügel, die außerhalb der Flügel-Endplatten und über dem Sog der Reifen beeinträchtigt die Funktion der Teile nicht, die bei einem aktuellen Auto Abtrieb produzieren. Das Ergebnis ist also wahrscheinlich der größte Abtrieb mit den geringsten aerodynamischen Nachteilen."

Alex Lynn, Williams, Heckflügel

Beim Barcelona-Test setzte Williams auf einen überdimensionalen Heckflügel Zoom

"Wenn das funktioniert und alle Probleme löst, was ich sehr bezweifle, dann muss sich Williams darum bemühen, diesen zusätzlichen Abtrieb innerhalb des Reglements zu finden. Dabei handelt es sich um keine einfache Aufgabe, aber andere Teams haben gezeigt, dass es möglich ist."

Kristoffer Hjelm (E-Mail): "Es wird viel über die Sicherheit im Cockpit, Halo oder eine Schutzscheibe diskutiert. Warum schlägt niemand vor, die Räder zu verkleiden, um Horrorunfälle wie den von Dan Wheldon zu verhindern?"
Anderson: "Wenn man sich Rennserien mit verkleideten Rädern wie die IndyCar-Serie oder die WEC ansieht, dann fällt auf, dass bei einem Unfall die Radverkleidung als erstes abreißt und die Räder freistellt. Die Räder also mit einer Struktur zu verkleiden, die dem standhält, ist schwierig. Außerdem wäre sie ziemlich schwer."

"Außerdem haben die Rad-Halteseile in der Formel 1 dazu beigetragen, dass die Räder bei einem Unfall halten. Diese Technik sollten in allen Formel-Rennserien eingesetzt werden, und zwar aus dem einfachen Grund, dass in den Nachwuchsserien mehr Unfälle passieren als in der Formel 1."

"Mit einem Kopfschutz würde man einen entscheidenden Körperteil vor Verletzungen schützen. Ich bin eher ein Fan der Schutzscheibe als von Halo, da sie den Kopf auch vor herumwirbelnden kleineren Objekten schützt. Helmut Markos Schicksal beweist uns, was alles passieren kann. Er hat ein Auge verloren, weil ein Stein aufgewirbelt wurde. Seitdem wurde der Visierschutz um das Zehnfache verbessert, aber weitere Verbesserungen können nicht schaden."

Daniel Ricciardo mit Cockpitschutz

Der Cockpitschutz von Red Bull soll den Fahrerkopf aus der Gefahrenzone holen Zoom

Amedeo Felix (Twitter): "Worin besteht die Logik, die Antriebseinheiten in der Formel 1 zu begrenzen? Die Kosten für Forschung und Entwicklung sind sicher um ein Vielfaches größer als die Fertigungskosten der Teile."
Anderson: "Ich bin eigentlich ein Fan der Teilebeschränkung. Wenn man nur ein Prozent der Gelder sein eigen nennen könnnte, die für Teile ausgegeben werden, die im Müll landen, weil sie auf der Rennstrecke nicht funktionieren, dann wäre man ein reicher Mann."

"Die Forschungs- und Entwicklungskosten existieren zwar weiterhin, aber durch den längeren Forschungszeitraum handelt es sich bei den Komponenten um einen größeren Schritt nach vorne. Außerdem ist es für die Teams mit großen Budgets nur bedingt möglich, Entwicklungen für jedes Rennen einzuführen, um am Ende drei oder vier unterschiedliche Fahrzeug-Spezifikationen zu haben. Für sie ist es egal, wenn das Ding im Müll landet. Wenn es funktioniert, dann ist das großartig, wenn nicht, dann wirkt es sich zumindest finanziell nicht großartig auf."

Kann ein Fahrer "alles" aus dem Auto herausholen?

Aman Dhatt (Facebook) "Manchmal hört man einen Fahrer sagen, dass er die bestmögliche Zeit aus dem Auto herausgeholt hat. Sollen wir das glauben? Kann irgendjemand die perfekte Qualifyingrunde fahren?"
Anderson: "Wenn ein Fahrer so etwas sagt, dann normalerweise, weil er aus seiner Sicht keine Fehler gemacht hat und überall am Limit war. Glaube ich ihm? Wahrscheinlich nicht. Daniel Ricciardos Q3-Runde in Barcelona war eine dieser Runden. Er würde wohl sogar sagen, dass er mehr aus dem Auto herausgeholt hat als seiner Ansicht nach möglich war."

"Mich beeindruckt, wie ein Fahrer das Gripniveau spüren kann, obwohl sich der Kurs und die Reifen im Laufe eines Trainings und sogar einer Runden ständig verändern. Auf manchen Kursen - und Barcelona gehört dazu - muss man in den ersten Kurven auf die Reifen aufpassen, damit sie auch im letzten Sektor der Runde den maximalen Grip bieten. In Barcelona besteht dieser ausschließlich aus langsamen Kurven, also ist man in Hinblick auf den Grip ausschließlich auf die Reifen angewiesen."

Peter Goodchild (Twitter) "Ich erinnere mich an die Zeiten, als Formel-1-Autos so etwas wie die kleinen Windhunde des Rennsports waren. Warum werden sie nun so schwer?"
Anderson: "Daran erinnere ich mich auch, und es gab kaum etwas Spannenderes als einem Auto bei seinem heißen Tanz auf einer Qualifying-Runde zuzusehen. Wir konnten die Autos ja damals 50 oder 60 Kilogramm unter dem Gewichtslimit bauen und dann Ballast dazupacken. Dafür gab es zwei Gründe: Man senkt dadurch den Schwerpunkt und konnte die Gewichtsverteilung je nach Rennstrecke abstimmen."

"Der damalige FIA-Chef Max Mosley war ein großer Fan davon, das Gewicht der Autos niedrig zu halten, weil dadurch weniger Energie bei einem Unfall absorbiert werden musste. Durch die Einführung der aktuellen Antriebseinheiten, deren Batterien rund 25 Kilogramm schwer sind und die über einen Turbo verfügen, der ebenfalls nicht leicht ist, wurde es für die kleinen Teams schlicht zu teuer, das Gewichtslimit einzuhalten. Somit befand man, dass die Anhebung des Gewichtslimits das kleinere Übel ist."

Sind kurze Seitenkästen ein Vorteil?

Peter Bukova (E-Mail): "Ich habe in einem Buch gelesen, dass die langen Seitenkästen des Jordan von 1996 Ihrer Ansicht nach das Problem waren und Sie deren Vorderkante 1997 verkürzten. Was ist bei langen Seitenkästen das Problem? Waren lange Seitenkästen bei Autos mit flachen Unterboden wie im Jahr 1994 ein noch größeres Problem?"

Anderson: "Man lernt jedes Jahr etwas dazu. Die Steuerung des Luftstroms von der Hinterkante des Frontflügels um die Vorderreifen herum ist einer der wichtigsten Faktor beim Versuch, über den Frontflügel und den Unterboden Abtrieb zu erzeugen. Mit kürzeren Seitenkästen hat man mehr Platz, um den Luftstrom zu steuern."

Antonio Fuoco

Crashstruktur: An der Vorderkante des Ferrari-Seitenkasten ist eine Beule sichtbar Zoom

"Gäbe es also bei einem aktuellen Formel-1-Auto keine seitlichen Crashtestbestimmungen, dann wären die Seitenkästen sogar noch kürzer. Man sieht Wülste an den Ferrari-Seitenkästen, die einzig und allein dazu dienen, die seitliche Crashstruktur abzudecken."

"Als wir Groundeffect-Autos hatten, um den maximalen Abtrieb zu erlangen, haben wir auf sehr lange Seitenkästen gesetzt. Dadurch rückte der Druckpunkt des Unterbodens so weit nach vorne, dass der Frontflügel entweder sehr klein ausfiel oder nicht einmal benötigt wurde. Es gab also nicht wirklich ein Problem mit dem Sog, der durch die Endkante des Frontflügels entsteht."

David Barnes (E-Mail): "Ich habe gelesen, dass Sie in der IndyCar-Serie gearbeitet haben. Haben Sie im Mai jemals in Indianapolis gearbeitet und wenn ja, wie war es dort? Wie geht man bei all der Trainingszeit an die Setuparbeit heran und welche Auswirkungen haben die Bedingungen, der Wind und die Temperaturen?"
Anderson: "Ja David, ich habe im Mai in Indy gearbeitet, und es war eine großartige Erfahrung. Es ist hart, denn man hat den Eindruck, dass dieser Monat ewig dauert."

"Man dreht sich ständig im Kreis. Wenn der Wind auch nur ein bisschen dreht oder sich die Temperatur ändert, dann ändert sich auch die Balance des Autos dramatisch. Selbst ein halber Millimeter mehr oder weniger Bodenabstand wirkt sich auf die Balance aus, und wenn man nicht auf der Hut ist, dann läuft man Gefahr, den Überblick zu verlieren."

"Eine der größten Herausforderungen ist der Unterschied zwischen Qualifying und Rennen. Im Qualifying fährt man alleine, also muss man sich nur auf das Wetter konzentrieren. Im Rennen ziehen aber die 33 Autos mit Tempo 220 mph (354 km/h; Anm. d. Red.) die Luft hinter sich her. Das sorgt für einen Sog, wodurch die Autos Abtrieb verlieren, vor allem an der Hinterachse. Und das letzte, was man in Indy brauchen kann, ist Übersteuern."

Wie können Teams eine Missachtung der Stallorder akzeptieren?

John Crane (E-Mail): "Beim Formel-E-Rennen in Berlin hat das Abt-Audi-Team versucht, eine Stallorder zu verhängen. Daniel Abt hat versucht, Lucas di Grassi einmal vorbeizulassen, und hielt dann seine Position. Beide Fahrer gingen damit bewundernswert um, und der Teamchef sagte, dass er das Ergebnis akzeptiert. Können Fahrer Ihrer Meinung nach so einen Frust verbergen? Und sind Teams so gelassen, wie sie tun, wenn eine Stallorder missachtet wird?"
Anderson: "Wie weiter oben am Beispiel Hamilton/Rosberg bereits erwähnt: Das Team ist größer als seine Fahrer."

"Da macht es keinen Unterschied, ob wir über die Formel 1 oder die Formel E sprechen. Solange Stallorder erlaubt ist, muss das Team den Marsch blasen können und die Fahrer müssen sich daran halten. Das Problem an der Situation, die Sie beschrieben haben, ist ganz einfach: Beim Team handelt es sich um Abt-Audi, und einer der Fahrer ist Daniel Abt, Sohn des Teamchefs."

"Das Ergebnis ist unabänderlich, und es macht keinen Unterschied, ob man dann wie Lewis Hamilton so oft bei der Siegerehrung ein böses Gesicht macht. Es ist also besser, einfach damit zu leben, denn im Laufe der Zeit wird sich das Blatt wenden, und dann ist der Zeitpunkt gekommen, um sich daran zu erinnern."