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  • 27.04.2016 09:01

  • von Dominik Sharaf

Rennvorschau Sotschi: Lewis Hamilton gerät unter Druck

Mercedes reist als Favorit an, aber Ferrari kommt mit einem Motorenupdate - Pirelli sorgt für Kontroverse - Red Bull könnte "Windschutzscheibe" testen

(Motorsport-Total.com) - Wenn die Formel 1 am kommenden Wochenende den dritten Russland-Grand-Prix ihrer Geschichte unter die Räder nimmt, kehren Lewis Hamilton und das Mercedes-Team an den Ort ihrer größten Triumphe zurück. Geht es für die Silberpfeile darum, an die Dominanz der ersten Saisonrennen anzuknüpfen, will der Brite seine aktuelle Pechsträhne beenden und sich den ersten Laufsieg seit Oktober 2015 sichern. Doch dem Vorhaben im Wege steht der Mann der Stunde: Stallgefährte Nico Rosberg.

Titel-Bild zur News: Kimi Räikkönen in Sotschi

Kimi Räikkönen in Sotschi: Es geht quer über Putins protziges Olympiagelände Zoom

Der Deutsche kommt mit dem Selbstvertrauen von sechs Erfolgen in Serie ans Schwarze Meer und sagt der 'Welt am Sonntag': "Ich spüre einfach, dass ich mich sehr weiterentwickelt habe." In der WM-Gesamtwertung hat Rosberg 36 Punkte Vorsprung auf Hamilton und seit dieser Woche auch einen Vorteil bei der Nutzung des Antriebskontingentes. Schließlich reparierte Mercedes zwar die MGU-H, die im Auto des Weltmeisters in China versagte. In Russland wird er aber mit der zweiten Komponente starten.

Hamilton, der sich demonstrativ gelassen und unbekümmert gibt ("Ich bin viel entspannter, selbst wenn ich früher nicht unglücklich war"), hat aber Trümpfe auf seiner Seite. Im Qualifying war er - wenn das Auto nicht streikte - der schnellere der beiden Silberpfeile. In Sotschi gewann er beide bislang ausgetragenen Rennen, bei denen Mercedes jeweils den Gewinn der Konstrukteurs-WM in trockene Tücher packte. Kein Wunder, dass er behauptet: "Die Strecke scheint mir ziemlich gut zu liegen."

Vollgas und Vollbremsungen zwischen Putins Prunk-Sportstätten

Die 5,848 Kilometer lange Bahn, die quer durch die für die Olympischen Winterspiele errichteten Prunkbau-Sportstätten führt und auf den Fernsehbildschirmen den Charme einer Chemiefabrik versprüht, ist ein Hochgeschwindigkeitskurs mit einigen Tücken. Bei einem Vollgasanteil von 60 Prozent erreichen die Autos bei der Zufahrt auf Kurve 2 bis zu 345 km/h, was sich auch auf den Spritverbrauch auswirkt. Russland gilt - nach Australien, Kanada und Mexiko - als eine der fordernsten Strecken, bietet wegen einiger harter Bremsmanöver aber auch Gelegenheiten zum Überholen.

Trotzdem schrauben die Teams viel Abtrieb auf die Autos, was einigen langsamen 90-Grad-Kurven geschuldet ist, die auch zu Fehlern einladen. Das heißt unter dem Strich: Das Set-up ähnelt trotz der Topspeeds dem in Singapur - und da sah Mercedes zuletzt nicht gut aus. Die spektakulärste Passage ist ein Unikum und hört auf den Namen Kurve 3. Die 180-Grad-Linkskurve in Form eines Hufeisens wird mit 260 km/h durchfahren und stellt im Rennen die Nackenmuskulatur der Piloten mit hohen G-Kräften vor eine Belastungsprobe.

Niemand nominierte Medium: Pirellis Reifenwahl wirft Rätsel auf

Bei der Wahl der Reifenmischungen agiert Pirelli vorsichtig - schließlich erlebten die Italiener mit einer zurückhaltenden Selektion bei der Premiere ein Waterloo und sorgten für ein Rennen mit Langeweile pur. 2016 stehen Supersoft, Soft und Medium im Regal, wobei der Verschleiß aufgrund des glatten Asphalts in Sotschi den härtesten Typen kaum fordern wird. "Die Wahl fällt eher konservativ aus", unterstreicht Mercedes-Technikchef Paddy Lowe. Williams-Kollege Pat Symonds hat Bedenken bezüglich des Arbeitsfensters: "Supersoft bekommen wir im Qualifying vielleicht gar nicht auf Temperatur."

Kuriose Folge: Mit Ausnahme der Manor-Piloten entschieden sich alle Fahrer für nur einen Satz Medium - weil die Regeln sie dazu zwingen. Zum Einsatz kommt er möglicherweise überhaupt nicht. Bei der Menge an bestellten Soft und Supersoft gibt es jedoch erstaunliche Unterschiede. Besonders risikofreudig sind Red Bull und Haas mit zehn Sätzen des weichsten Gummis. Auch Mercedes geht die Aufgabe mit acht Sätzen offensiv an, während sich Ferrari mit sechs Sätzen zurückhält.

Das Wetter in Sotschi wird ersten Prognosen zufolge kein Risikofaktor: Überwiegend trockene Bedingungen und frühlingshafte Temperaturen von bis zu 20 Grad Celsius sind vorhergesagt. Der Samstag verläuft weitgehend sonnig, die Chancen auf Regen sind relativ gering. Am Sonntag können dann einige Wolkenfelder durchziehen, allerdings überwiegt dennoch der Sonnenschein. Die kleinen Teams - und diejenigen mit Antriebsschwächen - hoffen also vergeblich auf eine Chance.

Mercedes versus Ferrari: Nach Motorenupdate ausgeglichener?

Ferrari will Mercedes dagegen auch im trockenen Paroli bieten - mit einem frischen Update des V6-Hybriden im Heck des SF16-H. Drei der neun verbliebenen Entwicklungstoken setzt die Scuderia dafür angeblich ein und will so offenbar ihre Zuverlässigkeitsprobleme beheben. Das Problem: Sebastian Vettel muss deshalb beim vierten Grand Prix den dritten Verbrennungsmotor der Saison zücken und kommt der ersten Strafe, die es bei der fünften Komponente hagelt, näher. Keine frische Aggregate mehr zu haben könnten zum Saisonende einen Leistungsnachteil nach sich ziehen.

Müssen der Heppenheimer und Teamkollege Kimi Räikkönen aber nicht um die Technik fürchten, könnte Ferrari ähnlich wie Mercedes für das Qualifying zusätzliche Leistung freigeben - ob das aber reicht, um den 2016 an den Samstagen stets großen Abstand auf Hamilton und Rosberg zu verkürzen, ist mehr als fraglich. Eher könnte sich die Chance der Roten am Rennstart ergeben, denn der Erzrivale wartet weiter auf die versprochene Daimler-Kupplung, die die neuen Starts konstanter machen soll.


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Red Bull könnte Windschutzscheibe als 2017er Kopfschutz testen

Im Kampf um den Platz als "Best of the Rest" könnten sich die Mercedes-Kunden rehabilitieren. Nachdem zuletzt Red Bull und US-Neueinsteiger Haas dem Spitzenduo mit Fernglas-Abstand folgten, rechnen sich Williams und Force India mit Nico Hülkenberg auf der Powerstrecke in Russland Chancen aus. Allerdings spricht für die Österreicher, dass es das gute Chassis des RB12 erlaubt, auf viel Abtrieb zu verzichten und so die Nachteile des Renault-Antriebs auszugleichen.

Red-Bull-Pilot Daniil Kwjat erwartet zudem der Rückenwind seines Heimpublikums - eventuell erneut mit Präsident Wladimir Putin auf der Tribüne. Den Jubel erwarten darf auch Formel-1-Debütant Sergej Sirotkin. Der Nachwuchspilot aus Moskau erhält im Freien Training seine erste Chance im Renault-Werksteam und übernimmt überraschend das Auto Kevin Magnussens.

Cockpitschutz: Halo-Alternative von Red Bull

Cockpitschutz: Die Halo-Alternative von Red Bull könnte zum Einsatz kommen Zoom

Das Freie Training birgt noch ein interessantes Momentum: Nachdem Ferrari am Rande der Wintertestfahrten in Barcelona erstmals das für 2017 geplante Halo-System getestet hat, könnte Red Bull in Sotschi die eigene Interpretation des Cockpitschutzes ausprobieren. Dabei handelt es sich um eine oben offene Vollverkleidung der Pilotenkanzel mit einer Windschutzscheibe. Zum Einsatz kommt die Konstruktion aber nur, wenn ein Vortest mit dem Aufprall eines Rades positiv verläuft.