• 28.04.2016 08:06

  • von Gary Anderson (Haymarket)

Frag Gary Anderson: Was steckt hinter Hamiltons Defekten?

Formel-1-Experte Gary Anderson beantwortet Leserfragen: Steckt Absicht hinter Lewis Hamiltons Defekten und was kann die Formel 1 von WEC oder MotoGP lernen?

(Motorsport-Total.com) - Formel-1-Experte Gary Anderson, der die technische Seite der Formel 1 aus mehreren Jahrzehnten Erfahrung kennt, stellt sich erneut Leserfragen. In der aktuellen Ausgabe erklärt er, ob möglicherweise System dahinter steckt, dass bei Nico Rosberg plötzlich alles glatt läuft und Lewis Hamilton von Problem zu Problem fährt. Außerdem analysiert er andere Motorsport-Topklassen und verrät, woran sich die Formel 1 ein Beispiel nehmen könnte.

Titel-Bild zur News: Lewis Hamilton

Der Defektteufel hat Lewis Hamiltons Mercedes dieses Jahr im Griff Zoom

Vojin Jaksic, Forschungs-und-Entwicklungs-Projektmanager bei Roush Fenway Racing: "Welches Wissen oder welche Technologie, die in einer anderen Rennserie (WEC, IndyCar, WRC, NASCAR, MotoGP, etc.) zum Einsatz kommt, fehlt in der Formel 1?"
Gary Anderson: "Vojin, was auch immer die Leute über die Formel 1 sagen: Sie ist nach wie vor Marktführer, was die Konstruktionstechnologie angeht."

"Wenn die Formel 1 irgendwas von anderen Rennserien lernen kann, dann dass Erfolg nur über die Spannung für die Zuschauer führt. Nehmen wir die MotoGP als Beispiel: Die Dorna hat bis aufs Letzte gegen die Werke gekämpft, um eine Einheitselektronik einzuführen. Und jetzt erkennen plötzlich alle, dass damit sehr viel Geld gespart wird und die Rennen besser sind."

"Die WEC ist ein anderes Beispiel: Die Motoren- und ERS-Konzepte von Audi, Porsche und Toyota sind extrem unterschiedlich. Dennoch ist es den Organisatoren über das Reglement gelungen, für eine enorme Leistungsdichte zu sorgen. Bei der IndyCar-Serie handelt es sich um eine Einheitsformel mit zwei unterschiedlichen Motoren und Karosserien, und man hört sehr viel über die Motorenunterschiede."

Gary Anderson

Gary Anderson blickt hinter die Kulissen des Hightech-Sports Formel 1 Zoom

"NASCAR wird grundsätzlich als Zuschauersport angesehen. Die guten Fahrer gewinnen zwar am Ende trotzdem, aber in der NASCAR würde man Seriensiege wie in der Formel 1 nicht zulassen. Die Formel 1 scheitert heute an ihrer Größe, und ihr Entscheidungsprozess leidet darunter, dass so viele Interessengruppen ein Wahlrecht haben, bevor irgendwas beschlossen ist. Für die Außenwelt macht sie einen ziemlich dummen und selbstgefälligen Eindruck.

Warum Hamilton einfach Pech hat

David Smith (E-Mail) "Lewis Hamilton hat dieses Jahr bisher mehr Pech als Nico Rosberg. Wie kann es in einem Team dazu kommen? Liegt das daran, dass man sich um ein Auto weniger bemüht, oder wollen die Teams, dass ein Fahrer gewinnt? Es ist seltsam, dass bei einem Auto so viel schiefläuft, aber nicht beim anderen."
Anderson: "Ich denke nicht, dass hier getrickst wird. Kein Team will, dass ein Fahrer scheitert, nur um dem anderen zu helfen. Das wäre ziemlich blöd, da ja beim anderen Auto auch alles Mögliche passieren kann. Und es geht schneller als man denkt, und man verzeichnet plötzlich eine Doppelausfall."

"Hamilton hatte eine Getriebeproblem, dass wahrscheinlich von einer einzelnen internen Komponente verursacht wurde. Danach hatte er ein ERS-Problem, weshalb er keine Qualifying-Zeit setzen konnte. Somit war klar, dass er in China vom Ende der Startaufstellung starten würde. Wegen dieser Strafe entschied sich Mercedes, als Vorsichtsmaßnahme die gesamte Antriebseinheit auszutauschen. Wie wir nun gehört haben, ist der Motor aber in Ordnung und kann wieder eingesetzt werden."

"Alle anderen Probleme rührten von seinen schlechten Starts her. Beide Mercedes-Boliden waren diesbezüglich etwas träge, also gehe ich davon aus, dass das Team seine Bemühungen auf diesen Bereich konzentriert."

Edwin van der Velde (E-Mail): "Ich habe eine Frage zu Auswirkung der Flow-Viz-Farbe auf technische Komponenten und Reifen: Flow-Viz dringt in die Bremsbelüftungen, die Seitenkästen und die Lufteinlässe ein. Leiden darunter nicht die Bremsen, die Reifen, der Motor und andere Komponenten?"
Anderson: "Edwin, soweit ich richtet das überhaupt keine Schaden an. Zu meiner Zeit haben wir ein leuchtendes Pulver verwendet, das dann mit einer Art Parrafin vermischt wurde. Das wurde dann an der Vorderkante der Komponente aufgetragen, bei der man die Charakteristik des Luftstroms verstehen wollte."

Nico Rosberg FlowViz

Mittels Flow-Viz-Farbe kann der Luftstrom analysiert werden Zoom

"Wenn der Luftstrom dann auf die Fläche trifft, schmiert er die Flow-Viz-Farbe über die Oberfläche und auf andere Oberflächen, zu denen sich der Luftstrom hinbewegt. Das ist ein schneller und einfacher Weg, um ein paar grundsätzliche Informationen einzuholen. So zeigt sich, ob ein Flügelprofil unter einem Strömungsabriss leidet, es funktioniert aber nur auf Oberflächen. Wichtiger ist aber die Frage, was mit dem Luftstrom abseits der Oberfläche passiert."

"Um das herauszufinden, werden diese riesigen Rahmen, die wir am Freitagmorgen sehen, an das Auto geschraubt. Sie messen den Luftdruck und in machen Fällen die Richtung des Luftstroms rund um oder hinter den Reifen. Die Flow-Viz-Farbe entwickelt sich nach einigen Kilometer zu einem sehr feinen Staub, der ganz einfach weggewischt werden kann."

Warum sich Genieblitze oft erst später durchsetzen

Richard Bell (E-Mail): "Tyrrell und Benetton setzten in den frühen 1990er-Jahren auf eine hohe Nase, während andere weiter mit der konventionellen Nase fuhren. War diese Entwicklung so schwer zu verstehen?"
Anderson: "Richard, die hohe Nase war nicht die entscheidende Entwicklung. Stattdessen geht es darum, wie diese hohe Nase mehr Luft zwischen die Vorderreifen leitet und wie man sein Auto um diese Idee entwickelt. Hätten andere Teams ihre 1991er- und 1992er-Autos mit hohen Nasen getestet - und das haben sie wahrscheinlich -, dann hätten sie wahrscheinlich kaum einen Unterschied gemerkt."

Gerhard Berger, Riccardo Patrese, Nigel Mansell, Jean Alesi, Andrea de Cesaris, Nelson Piquet Jun.

Der Tyrrell aus dem Jahr 1990 (rechts hinten) war das erste Auto mit hoher Nase Zoom

"Es wäre sogar schlechter gelaufen, denn das restliche Auto wurde so konstruiert, dass es mit dem von der ursprünglichen Nase generierten Luftstrom funktioniert. Wenn es zu Entwicklungen dieser Art kommt, muss man zunächst daran glauben. Dann muss man das Auto nach diesem Konzept neu aus ausrichten."

"Wenn man aber ein Aerodynamiker ist und dem Technikchef sagt, man habe das Konzept der hohen Nase getestet, die Zahlen seien schlechter als davor, aber man sollte in den kommenden drei Monaten die komplette Mannschaft und viel Geld dafür einsetzen, um diese Idee weiterzuentwickeln, dann würde er sich fragen, ob man verrückt ist."

"Deswegen hat sich Adrian Newey in seiner Karriere so gut geschlagen: Er ist Technikchef und Chefaerodynamiker in Personalunion. Wenn er also von einem Konzept überzeugt ist, das seiner Ansicht nach den vollen Fokus verdient, dann muss er keine Erlaubnis von jemandem einholen, der die Aerodynamik wahrscheinlich nicht so wie er versteht.

Ben Parkinson (E-Mail): "Man hört immer wieder von 'angeblasenen' Vorderachsen. Was will man mit diesem Design erreichen und wie schwierig ist es, dass es funktioniert? Was bringt es, wenn man bedenkt, dass es eigentlich nur einen kleinen Unterschied machen kann?"
Anderson: "Ben, in Wahrheit können die Topteams nur mehr durch Kleinigkeiten einen Unterschied machen."

"Aerodynamische Verbesserungen, die eine Zehntelsekunde pro Runde bringen, sind äußerst selten, aber dabei handelt es sich um so eine Entwicklung. Bei einem normalen System ohne angeblasene Achse dringt der Luftstrom durch die Bremsbelüftung ein, läuft durch die Bremsscheibe und am Bremssattel vorbei, ehe er durch das Vorderrad wieder nach draußen dringt."

Radaufhängung des Red Bull RB11

Die angeblasene Vorderachse kam schon 2015 beim Red Bull RB11 zum Einsatz Zoom

"Das macht man, um Turbulenzen zu verhindern, wenn der Luftstrom auf die Vorderkante des Unterbodens trifft. Außerdem sorgt es dafür, dass mehr Luft zwischen den Vorderrädern durchströmt. Es gibt zwei Arten, um die Bremsenkühlung zu nutzen. Man kann den Einlass größer machen, aber wenn die Bremsbelüftung keine Luft mehr aufnehmen kann, dann entsteht Druck und die überschüssige Luft beeinflusst, wie die Komponenten angeströmt werden."

"Außerdem kann man den Unterdruck am Belüftungsausgang verringern. Dadurch strömt mehr Luft durch, außerdem ist der Luftstrom konstanter. Man muss aber verhindern, dass es zu einem Strömungsabriss kommt und keine Luft mehr durchströmt. Durch das System der angeblasenen Vorderachse sorgt der saubere Luftstrom durch die Achse dafür, die turbulente Luft durch das Rad zu saugen. Somit werden die Bremsen und die effizienter und kostanter gekühlt. Dadurch kann man widerum kleinere Bremsbelüftungseinlässe fahren, wodurch sich die Performance verbessert."

Anthony Stark (Twitter): "Was würde passieren, wenn die Abtriebsregeln, die den Unterboden betreffen, gelockert werden würden? Würden sich die Teams dann nicht mehr so auf den Abtrieb über die Flügel konzentrieren?"
Anderson: "Daran hätte ich große Zweifel. Es kommt nur sehr selten vor, dass jemand etwas aufgibt, dass er schon gelernt hat. Die Lernkurve beim Design der Flügel, um Abtrieb zu generieren, hat sich über viele Jahre hinweg entwickelt. Ich könnte mir also vorstellen, dass die Teams einfach das allgemeine Abtriebsniveau des Autos vergrößern würden."

Was gegen das Comeback der Handschaltung spricht

James Luke (Facebook): "Warum kehrt die Formel 1 nicht zur manuellen Schaltung zurück? Das würde doch die Fehlerquote der Fahrer vergrößern und für mehr Überholmöglichkeiten sorgen..."
Anderson: "James, kann die Uhr nicht zurückdrehen und wieder den alten Schalthebel einführen. Bei vielen Straßenautos kommt heute schon die Wippschaltung zum Einsatz. Und wenn nicht, dann verwendet man zumindest ein elektronisches Schaltungssystem."

"Man könnte meiner Ansicht nach die Effizienz der aktuellen elektronischen/hydraulischen Systeme verringern, damit diese selbst für Fehler sorgen und der Fahrer mit einem Gangwechsel reagieren muss, um die Lage wieder in den Griff zu bekommen. Die Auswirkungen wären wahrscheinlich ähnlich wie bei den Veränderungen des Startsystems, die für mehr Fehler sorgen, wie sowohl Lewis Hamilton als auch Nico Rosberg diese Saison schon erfahren mussten."

Mercedes-Cockpit

In der Formel 1 wird via Wippschaltung der Gang gewechselt Zoom

David Bates (E-Mail): "Sie waren in der Vergangenheit auch in der Formel 3 tätig. Was sagen Sie zu den enormen Budgets dieser Tage in der EM und zur neuen britischen BRDC-Formel-3-Meisterschaft, die nicht wirklich für Formel-3-Autos geschaffen ist und außerdem auf Einheitsautos setzt. Wie wichtig ist die Formel 3 und ist sie vom Kurs abgekommen?"
Anderson: "David, für mich ist die Formel 3 eine der besten Rennklassen, die ich kenne. Das zeigt sich allein durch die Anzahl der Topfahrer, die sie hervorgebracht hat. Wenn man nur die Finger davon lassen würde, dann könnte sie immer noch eines der besten Sprungbretter sein, die es gibt."

"Die Formel 3 bestach durch die Fahrer, aber umso mehr durch die Technik. Als noch unterschiedliche Chassis' zum Einsatz kamen, konnten die Ingenieure Probleme identifizieren, sich zurückziehen und eine Lösung dafür designen. So habe ich - und viele andere Leute - mein Handwerk gelernt. Ich weiß nicht, warum die Budgets in der Formel 3 in den vergangenen Jahren so angestiegen sind."

"Im Jahr 1984 setzten wir bei Anson in der Formel-3-EM auf Tommy Byrne, erhielten gratis Reifen von Yokohama und hatten ein Budget von 20.000 Pfund. Vielleicht gibt es Anson deswegen nicht mehr. Für uns war das gerade irgendwie möglich. GP2 und GP3 wurden von einer Gruppe von Leuten gegründet, die damit Geld verdienen, die Formel 3 zerstören und die Formel 3000 ersetzen wollten. Da die Rennen im Rahmenprogramm der Grands Prix stattfanden, kamen die Piloten vor den Augen der Formel-1-Teams zum Einsatz. Es gibt keine bessere Showbühne."

"Ich bin mit dem aktuellen Formel-3-Reglement nicht im Detail vertraut, aber mein Eindruck ist, dass das Abtriebsniveau um eine Spur zu hoch ist. Ich habe Eddie Jordan kennengelernt, als wir in den frühen 1980er-Jahren beide in der Formel-3-EM aktiv waren. Dort habe ich herausgefunden, wie er arbeitet: Er versuchte stets, meine Fahrer zu kriegen, wenn diese ein paar Sponsoren hatten. Sie kamen aber stets zurück, obwohl sie dann meist etwas weniger Geld in ihren Taschen hatten."

"Einmal in Imola setzten wir beide auf Yokohama-Reifen, nur war er das Werksteam und ich nur der Kunde. Es waren nur zwei Sätze Qualifying-Reifen verfügbar, und beide Teams schraubte je einen Satz an. Mehr durfte kein Fahrer verwenden. Er beschwerte sich dann bei Yokokama vehement, dass er diesen zusätzlichen Reifensatz gebraucht hätte - für den Fall, dass einer seiner Reifen einen Plattfuß habe. Deswegen kamen sie dann zu mir und nahmen mit den einzigen Satz Qualifying-Reifen weg. Dennoch bin ich im Nachhinein stolz, ihn zu kennen und für ihn gearbeitet zu haben."