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20 Jahre Häkkinen-Unfall: Was wir dem Drama verdanken

Die Formel 1 wähnte sich bereits wieder in Sicherheit, als Mika Häkkinen vor 20 Jahren in Australien verunglückte: Die Auswirkungen des Dramas auf die Formel 1

(Motorsport-Total.com) - Die Formel 1 hatte sich Ende 1995 gerade aus ihrer Schockstarre befreit - und Ferrari-Berater Niki Lauda atmete durch: "Das Schönste an dieser Saison ist, dass nichts Schlimmes passiert ist." Doch wenige Minuten später klebten die Augen der Formel-1-Legende ungläubig am TV-Schirm: McLaren-Pilot Mika Häkkinen flog beim ersten Qualifying für den Grand Prix von Australien in Adelaide in der schnellen Brewery-Bend-Rechtskurve von der Strecke und donnerte ungebremst in die Reifenstapel - mit fast 200 km/h.

Als der Pilot nach dem Anprall reglos im Wrack hing, das Ärzteauto mit rotem Blinklicht eintraf und die Streckenposten schockiert die Rettungsmaßnahmen beobachteten, kamen nicht nur bei Lauda die tragischen Bilder von Imola 1994 hoch. Das schwarze Wochenende hatte vor eineinhalb Jahren Superstar Ayrton Senna und Roland Ratzenberger das Leben gekostet - Millionen TV-Zuschauer waren in ihren Wohnzimmern Zeugen der grausamen Unfallserie gewesen. Manche hatten sogar das Ende des tödlichen Sports gefordert.

Und jetzt das. Ausgerechnet im letzten Rennen, bevor in der Formel 1 hochgezogene Cockpitwände eingeführt wurden, erlitt Häkkinen, dessen Bolide wegen eines Reifenplatzers abgeflogen war, beim Aufprall einen Schädelbruch. Überhaupt hatte sich die Formel 1 nach Imola 1994 auf einem radikalen Feldzug befunden, um die Sicherheit des Sports zu verbessern. Doch all das drohte nun, von einer weiteren Katastrophe überschattet zu werden.

Häkkinen-Unfall als Mahnung: Imola-Maßnahmen unzureichend

Mika Häkkinen

Schon 1993 flog Häkkinen in seiner Unglückskurve über die Randsteine ab Zoom

Als Formel-1-Arzt Sid Watkins an der Unfallstelle eintrifft, erkennt er sofort den Ernst der Lage bei Häkkinen. "Er war ohnmächtig und hatte Atembeschwerden", erinnert er sich in seinem Buch 'Über dem Limit'. "Wir holten ihn aus dem Wagen und musste noch an der Strecke einen Luftröhrenschnitt machen." Häkkinen hatte seine Zunge verschluckt. Hätte Watkins nicht eingegriffen, wäre der McLaren-Pilot erstickt. Er wird mit schweren Kopfverletzungen ins Krankenhaus gebracht.

Für den gesamten Sport ist dies ein weiterer Weckruf. Denn im Nachhinein ist klar, dass die seit dem schwarzen San-Marino-Wochenende getätigten Maßnahmen für die Sicherheit bei weitem nicht ausreichten, um den Tod langfristig aus der Formel 1 zu verscheuchen. Der Unfall war auch eine Mahnung: Nur jetzt nicht selbstgefällig und nachlässig werden!


Jackie Stewart analysiert Häkkinens Horrorunfall

Und der damalige FIA-Boss Max Mosley verstand die Botschaft. Er war es, der nach Imola eine beispiellose Sicherheitsrevolution gestartet hatte. Durch das Ende der aktiven Radaufhängung Ende 1993 war die Formel 1 komplett außer Kontrolle geraten: Die Teams konstruierten die Boliden für 1994 so, als würde das technische Hilfsmittel nach wie vor existieren, und stimmten die Autos mit minimalem Bodenabstand ab. Giftig zu fahrende, völlig unberechenbare Rennautos brachten die Piloten an ihre Grenzen - und darüber.

Zunächst wurden die Boliden nach Imola eingebremst: Im Unterboden baute man eine Stufe ein und auch der Diffusor wurde beschnitten, damit die Gefahr eines plötzlichen Strömungsabrisses gebannt werden konnte. Zudem wurde der Frontflügel höhergelegt.

Mosley will Sicherheit auf wissenschaftliche Basis stellen

Auch vor Änderungen an legendären Streckenpassagen schreckte der konsequente Mosley nicht zurück: Die Tamburello-Kurve in Imola musste für 1995 umgebaut werden, in Spa ließ er die Boliden in der Eau-Rouge-Senke sogar durch eine improvisierte Schikane fahren. Und auch die klassischen Kurse in Silverstone und Monza wurden entschärft.

Doch vor allem hinter den Kulissen der Formel 1 ließ Mosley keinen Stein auf dem anderen. Am Tag nach Karl Wendlingers Monaco-Unfall nur wenige Wochen nach der Imola-Katastrophe bestellte er Formel-1-Arzt Watkins zum Chef der neuen Sicherheits-Expertengruppe, der auch Rennleiter Charlie Whiting und Pilot Gerhard Berger angehörten.

Alle Sicherheitsaspekte der Formel 1 sollten genau überprüft werden - "und zwar systematisch und wissenschaftlich, anstatt wie in der Vergangenheit aus der Situation heraus", forderte Mosley.

Wie Arzt Watkins die Formel 1 revolutioniert

Sid Watkins

Arzt Sid Watkins war bei der Einführung neuer Sicherheitsstandards federführend Zoom

Als der Chirurg, der vor drei Jahren im Alter von 84 an Krebs verstarb, davon erfuhr, behandelte er gerade ein Kind - und die Mutter gratulierte dem ahnungslosen Briten zu seinem neuen Job. "Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete", sagte er. "Sie hatte im französischen Radio gehört, dass der Präsident der FIA eine neue Expertengruppe für die Sicherheit der Rennstrecken, Streckenbegrenzungen und vieles mehr gegründet hatte. Mich hat man nicht gefragt."

Dennoch hatte Mosley mit Watkins, der rasch einwilligte, genau den richtigen Mann für seine Mission gefunden: Der Formel-1-Arzt hatte seit den 1970er-Jahren die ärztlichen Einrichtungen an der Strecke auf ein professionelles Niveau angehoben und zahlreiche Fahrer-Leben gerettet. "Er war nicht nur unser bester medizinischer Verantwortlicher und ein Weltklasse-Neurochirurg, sondern auch unglaublich clever. Und er hatte die Fähigkeit, nicht-medizinischen Problemen mit einer wissenschaftlichen Herangehensweise zu begegnen."

Und Watkins war klar, dass das Medienspektakel Formel 1 keine tödlichen Unfälle wie in den 1970er-Jahren mehr verträgt. "Durch die soziologischen Veränderungen in der Welt haben sich die Erwartungen so verändert, dass der alte Stil der Formel 1 nicht mehr akzeptabel ist", fiel Watkins auf.

Der gläserne Formel-1-Pilot

Dem leidenschaftlichen Whiskey-Trinker und Zigarrenraucher ist es zu verdanken, dass sich vor allem die Unfallforschung in der Formel 1 seit Imola 1994 deutlich verändert hat. "Sid Watkins war der Auslöser für eine wissenschaftliche Untersuchung von Unfällen", bestätigt Peter Wright, früher bei Lotus Konstrukteur und heute Chef der FIA-Sicherheitskommission, gegenüber 'auto motor und sport'. Watkins wusste um die Bedeutung, nachdem er mit dem britischen Unfallforscher Andy Mellor gesprochen hatte.

Daraus entstand eine umfangreiche Unfalldatenbank. Auch der Häkkinen-Unfall forcierte die diesbezüglichen Bemühungen: Zu Saisonbeginn 1996 wurden die Boliden wie in der Luftfahrt mit einem Unfalldatenschreiber, einer sogenannten Blackbox, ausgestattet. So weiß man genau, welche Kräfte auf den Piloten bei einem Unfall einwirken und wie man darauf reagieren kann.


Bericht über den Häkkinen-Unfall

"Wir wissen heute auf die Millisekunde genau, was das Auto gemacht hat, nachdem der Fahrer die Kontrolle verlor", erklärt Wright heute. "Wenn ein Fahrer verletzt wird, wissen wir, wann und warum die Verletzung entstanden ist."

Wie die Formel 1 heute vom Häkkinen-Unfall profitiert

Max Mosley

FIA-Boss Max Mosley setzte sich massiv für eine Verbesserung der Sicherheit ein Zoom

Der Unfall wird bei der Analyse in drei Phasen geteilt: Zuerst trifft das Monocoque auf das Hindernis, zum Beispiel die Leitplanke, dann wirkt sich die Verzögerung auf den Piloten aus, der sich relativ zum Auto bewegt, und abschließend prallen die Organe auf das Skelett, wodurch innere Verletzungen auftreten können.

Die Unfälle von Senna und Ratzenberger mussten noch im Labor nachgestellt werden. Ab 1996 hatte man dann zwar endlich Daten, konnte den Grund der Verletzungen aber nicht genau nachvollziehen, weil man kein vergleichbares Material hatte. "Wir haben deshalb weiter den Aufprall simuliert, versucht ein ähnliches Schadensbild darzustellen und die Dummys mit Sensoren ausgestattet", erklärt Unfallforscher Mellor gegenüber 'auto motor und sport'. Seit 2014 haben auch die Piloten g-Sensoren in den Ohrenstöpseln, wodurch man über die auf den Piloten einwirkenden Kräfte genau informiert ist.

Der nächste große Schritt steht unmittelbar bevor. "Wir arbeiten zur Zeit an einem mathematischen Modell für den menschlichen Körper. Wenn das abgeschlossen ist, treten wir in eine völlig neue Ära ein. Wir können dann Unfälle am Computer simulieren und die Auswirkungen dort betrachten", beschreibt Wright die aktuellen Fortschritte. Das von Toyota programmierte mathematische Modell soll übrigens in drei Jahren einsatzbereit sein.

Häkkinen: Lähmungserscheinungen und Gehör beeinträchtigt

Möglich wurde all dies nur, weil Mosley die finanziellen Mittel für die aufwändige und teure Arbeit auftrieb. "Er machte das Geld locker", erklärte Watkins. "Er hat unsere Arbeit für die Sicherheit großartig unterstützt und dafür gesorgt, dass wir es durchziehen." Mit Erfolg, wie der Formel-1-Arzt im Jahr 2007 feststellte: "Als ich anfing, endete einer von zehn Unfällen mit dem Tod oder einer ernsten Verletzung. Heute ist es einer von 300."

Mika Häkkinen

Mika Häkkinen erlitt bei seinem Crash in Adelaide einen Schädelbasisbruch Zoom

Häkkinen hatte bei seinem Australien-Unfall Glück im Unglück. Der Finne, der später noch zwei WM-Titel einfahren sollte, erholte sich von seinem Schädelbasisbruch abgesehen von einigen Einschränkungen vollständig. "Eine Gesichtshälfte ist heute noch halb gelähmt, ich kann auf dem rechten Ohr nicht gut hören", verrät der langjährige McLaren-Pilot gegenüber 'Bild'.

Wäre der Unfall heute passiert, dann wäre Häkkinen sicher glimpflicher davongekommen. Laut Messungen wurde der Kopf des Piloten damals mit 208 g verzögert - der Schädelbasisbruch wurde nicht, wie zunächst von vielen angenommen, beim Aufprall gegen die Reifenwand verursacht, sondern, weil er mit voller Wucht gegen das Lenkrad prallte.

HANS eine direkte Folge des Unfalls

HANS

Häkkinens Crash löste die Entwicklung des Nackenschutzes HANS aus Zoom

Und trotz der bereits feststehenden Einführung der hochgezogenen Cockpitwände war der Einfluss des Unfalles auf die Verbesserung der Sicherheit enorm. Das Ergebnis war neben einer verbesserten Kopfstütze hinter dem Helm das Head-And-Neck-Support-System, auch unter dem Namen HANS bekannt. Dabei sah es zunächst nach einer anderen Lösung aus. "Ich bin überzeugt: Airbags kommen in die Formel 1", meinte Gerhard Berger noch im Jahr 1995. Nach dem Häkkinen-Crash experimentierte die Sicherheits-Expertengruppe tatsächlich an einem McLaren-Chassis mit der im Straßenverkehr etablierten Technologie, kam aber zu dem Schluss, dass die Gefahr eines durch die Fliehkräfte ungewollt ausgelösten Airbags zu groß ist.

Und so entwickelte die FIA gemeinsam mit Mercedes das HANS-System, das durch den anfangs mäßigen Tragekomfort bei Piloten wie Jacques Villeneuve noch auf wenig Gegenliebe stieß. Doch Mosley blieb 2001 eisern: "Wir werden es vorschreiben und die Sache durchziehen." Der tatsächlich 2003 in der Formel 1 eingeführte Nackenschutz verhindert mit einer Vorrichtung auf den Schultern des Piloten, die mit dem Helm verbunden ist, dass der Kopf wie bei Häkkinen nach vorne geschleudert wird.

Die Entwicklung war laut FIA-Sicherheitschef Wright "unzweifelhaft eine riesige Hilfe. Es hat im Zusammenspiel mit der Kopf- und Nackenstütze die Verletzungen an der Schädelbasis und am Genick drastisch zurückgeführt."

Crash als Drehzahlbeschleuniger für Verkehrssicherheit

Mika Häkkinen

Seit 1996 sind hochgezogene Cockpitwände in der Formel 1 Pflicht Zoom

Nach dem Schock Ende 1995 zeigte schon der Saisonauftakt 1996 - übrigens wieder in Australien - dass die Formel 1 auf dem richtigen Weg war. Beim Start in Melbourne überschlug sich der Jordan-Peugeot von Martin Brundle und wurde beim Aufprall gegen die Mauer in zwei Stücke gerissen. Dennoch entstieg der Brite dem Wrack völlig unverletzt.

"Es besteht kein Zweifel", atmete er damals durch. "Vor ein paar Jahren wäre ich jetzt tot gewesen." Noch viel entscheidender ist aber, wie viele Todesopfer der Häkkinen-Unfall, der Mosley & Co. bei ihrem Feldzug für die Sicherheit Rückenwind gab, im Straßenverkehr verhinderte. Ohne die damaligen Ereignisse "hätten wir 20 oder 30 Jahre länger gebraucht, um punkto Verkehrssicherheit dorthin zu gelangen, wo wir heute sind", meinte Mosley vor ein paar Jahren.

"Uns wurde bewusst, dass die Crashtests für Straßenautos in Europa seit 1974 nicht mehr überarbeitet worden waren und starteten eine große Kampagne. Mit Erfolg, denn die Gesetze wurden geändert und neue Front- und Seiten-Crashtests eingeführt. Das hat viele Menschen gerettet."