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  • 14.10.2015 08:00

  • von Gary Anderson (Haymarket)

Gary Anderson: Es ist Zeit, die Nasen anders zu gestalten

Ex-Formel-1-Designer Gary Anderson geht nach dem Horrorunfall von Carlos Sainz in Sotschi den tiefen Nasen auf den Grund und fordert, deren Höhe zu korrigieren

(Motorsport-Total.com) - Es ist ein Klischee, aber auf der Eintrittskarte steht tatsächlich "Motorsport ist gefährlich" - und es steht da aus einem sehr guten Grund. Carlos Sainz erinnerte uns am Samstagmorgen des Formel-1-Grand-Prix von Russland daran, dass Unfälle immer passieren werden. Aber was mir am meisten Sorge bereitet ist, dass es die Regeln diktieren, dass man etwas fahren muss, das gefährlicher ist, als es sein müsste. Wenn das passiert, muss jemand hergehen und etwas tun. In der jüngeren Vergangenheit haben wir zu viele tödliche Unfälle in Autos mit offenen Cockpits gesehen. Jetzt gehöre ich zu den ersten, die sagen, dass wir etwas tun müssen und etwas getan werden kann.

Titel-Bild zur News: Carlos Sainz

War die tiefe Fahrzeugnase für den Ausgang des Sainz-Crash verantwortlich? Zoom

Sainz' Unfall hat unsere Aufmerksamkeit auf die tiefen Fahrzeugnasen gelenkt. Ich bin der Ansicht, dass sie zu tief liegen. Ich sage oft, dass ich über 40 Jahre im Motorsport aktiv war und - ob das nun gut oder schlecht ist: Es stimmt erst mal. Und während dieser Zeit habe ich viele Regeländerungen bezüglich der Sicherheit miterlebt. Einige davon verbesserten die Lage, andere verschlimmerten sie. Wenn in den alten Tagen bemerkt wurde, dass es mit einer Änderung in die falsche Richtung ging, dann wurde etwas unternommen.

Doch die Politik, die die Formel 1 jetzt umgibt, ist jetzt die treibende Kraft. Damit ist die Möglichkeit verschwunden, einfach gesunden Menschenverstand anzuwenden. Viele Leute werden vielleicht argumentieren, dass das, was ich sagen werde etwas ist, das jetzt im Nachhinein des Geschehens kommt. Doch ich kann euch versichern, dass es das nicht ist. Meine Bedenken bezüglich niedriger Fahrzeugnasen gehen zurück zur Einführung der aktuellen Regeln - also vor 2014.

Adrian Newey gegen tiefe Fahrzeugnasen

Ich interviewte Adrian Newey, den Technischen Direktor von Red Bull während der Wintertests 2014. Während des Interviews waren beide von uns der Überzeugung, dass es ein Rückschritt bei der Sicherheit ist, die Fahrzeugnasen so weit abzusenken. Das beweist auch Sainz' Unfall, bei dem die tiefe Nase des Toro Rosso die TecPro-Barriere über das Auto schob, woraufhin er beim Aufprall auf die Leitplanke einer Beschleunigung von 46 g ausgesetzt wurde.

Also warum haben sie die Nasen in diesem Maße nach unten gezogen? Das geschah als Reaktion auf verschiedene Unfälle. Die Schlüsselstelle war Mark Webbers Unfall beim Grand Prix von Europa 2010 in Valencia, als er zum Mitglied des Red-Bull-Flugteams wurde, nachdem er das Heck von Heikki Kovalainens Lotus traf. Die FIA schaute sich zusammen mit der Universität von Cranfield an, wie man das Risiko vermindern könne, dass ein Auto am anderen aufsteigt, wenn es das Hinterteil eines anderen Wagens trifft.

Die tiefe Nase war geboren, um dieses Risiko zu minimieren. Aber - und das ist ein großes Aber, damit ging man nur einen Unfalltyp in isolierter Form an. Schauen wir uns also die potentiellen Risiken bei anderen Unfalltypen an in dem Moment, in dem die Startampeln ausgehen. Da gibt es viele davon, ich werde vier davon auflisten.

Vier Unfalltypen und die tiefe Nase

1.) Alle Autos stehen in der Startaufstellung, die Motoren grölen. Die roten Lichter gehen aus und vorne kommt einer nicht los. Einer, der es nicht sieht, kommt von hinten und trifft das Heck des stehenden Fahrzeugs. Wegen des Diffusorwinkels der aktuellen Boliden ist das geradezu eine Einladung für alles, was wie ein Schneepflug konstruiert ist, sich darunter zu graben. Wenn das passiert und der hintere Fahrer mit seinem Kopf das Heck des vorderen Fahrzeugs trifft, sind die Konsequenzen nicht auszumalen.

2.) Dieser Unfalltyp widerfuhr Fernando Alonso 2012 ins Spa, als Romain Grosjean über ihn flog: Wäre er ein paar Zentimeter weiter hinten gewesen, hätte er leicht Alonso Kopf mitnehmen können. Dieser Unfall zeigt uns einfach das, worüber ich schon in Punkt 1.) gesprochen habe. Das Glück für Grosjean bestand darin, dass sie zu diesem Zeitpunkt nicht die tiefen Nasen hatten. Andernfalls wäre er geradewegs unter Alonsos Auto gelandet. Dieser Unfall wurde ebenfalls angeführt, um die Notwendigkeit niedriger Nasen zu begründen, dass man damit verhindert, dass ein Auto über das andere fliegt, wie es in diesem Fall geschah.

Romain Grosjean; Fernando Alonso

Wäre der Startunfall von Spa 2012 mit tiefer Nase noch schlimmer gewesen? Zoom

3.) Ein Fahrer verliert die Kontrolle und dreht sich. Das nachfolgende Auto fährt dem jetzt stillstehenden Auto in die Seite - oder, wie wir es in ein paar Fällen gesehen haben: Die Nase taucht entweder unter dem anderen Auto ein oder steigt über ihm auf. Der Seitenaufprallschutz hat in den vergangenen Jahren große Sprünge gemacht. Wie Grosjeans Unfall von Sotschi in Kurve drei zeigt, steigt der Fahrer nach solchen Unfällen einfach aus.

Nochmal: Das viel beunruhigendere Risiko ist, dass ein Auto über dem stehenden Auto aufsteigt oder sich darunter eingräbt. So lange der Fahrer, der sich dem stehenden Fahrzeug nähert, immer noch die Kontrolle hat, geht auch seine Reaktionszeit gegen Null. Er schaltet dann schnell in seinen "Überlebensmodus" um. Da geht es nicht nur um ihn selbst, sondern darum, dass er und die anderen weiter im Rennen bleiben.

Nico Hülkenberg, Marcus Ericsson

Markus Ericsson verfehlt in Sotschi nur knapp Nio Hülkenbergs Kopf Zoom

Ein gutes Beispiel ist auch die erste Runde in Sotschi. Markus Ericsson hatte keinen Platz, um auszuweichen und schaffte es, Nico Hülkenbergs Kopf nicht zu treffen, doch er stieg immer noch an den Seitenkästen des Force India auf. Es zeigt, dass die verwundbarste Stelle des Körpers - der Kopf - hier höchstem Risiko ausgesetzt ist.

4.) Der wahrscheinlich der schlimmste Unfalltyp, der einem Fahrer widerfahren kann ist, wenn das Auto einen beliebiges Problem jeder beliebigen Art hat. Wenn das passiert, nützt alles Talent nichts mehr und du könntest genauso gut eine 90-jährige Großmutter sein, denn dann bist du im Prinzip Passagier.

Verwundbarste Stelle bleibt der Kopf

Es war kein Problem am Auto, das Sainz in Sotschi in die Leitplanken schickte. Das Team geht davon aus, dass es ein Fahrfehler war, der dadurch verursacht wurde, dass er mit einer härteren Reifenmischung mit weniger Grip unterwegs war und er die Bremsbalance (an einem Knopf am Lenkrad; Anm. d. Red.) verstellte. Das beunruhigende war, was danach passierte. Er hatte sich die vordere und die hintere Radaufhängung beschädigt. Als Ergebnis konnte er weder bremsen noch lenken, womit er recht schnell zur 90-jährigen Großmutter wurde.

"Wir brauchen besseren Kopfschutz und ich glaube, dass diese Schritte 2017 in diese Richtung gegangen werden können." Gary Anderson

Was kann also getan werden? Ich akzeptiere, dass man Unfälle nicht verhindern kann. Man kann sie nur modifizieren und kontrollieren. Man kann nie alle möglichen Umstände berücksichtigen, aber man muss auf Erfahrungswerte reagieren. Wir wissen momentan, dass der verwundbarste Teil des Gesamtpakets der Kopf des Fahrers ist, der aus dem Cockpit herausragt. Wir brauchen besseren Kopfschutz und ich glaube, dass diese Schritte 2017 (wenn ohnehin umfangreiche Regeländerungen vorgesehen sind; Anm. d. Red.) in diese Richtung gegangen werden können.

Doch das Wichtigste ist es anzusprechen, dass es Regeländerungen gab, die die Situation verschlimmert haben: Dieses Diktat der niedrigeren Nasen. Sie müssen nicht so niedrig sein, wie sie sind und sie etwas anzuheben, würde die meisten meiner Bedenken, die ich oben ausgeführt habe, ausräumen.


Fotos: Neueröffnung des Autodromo Hermanos Rodriguez


Crashstrukturen vorne und hinten angleichen

Ich werde mit der Crashstruktur am Heck und der Höhe des Bereichs, in dem der Aufprall stattfindet, beginnen: Es ist mehr oder weniger die Höhe des Durchmessers der Reifen. Wenn also ein Fahrer ein anderes stillstehendes Auto von hinten trifft, wird die Einschlagsenergie durch die Teile Aufhängungsteile des vorderen Fahrzeuges abgebaut. Daher lautet meine Frage: Wieso befindet sich der Aufprallbereich der Nase nicht auf derselben Höhe wie der Aufprallbereich hinten?

Wenn man damit ein Auto von hinten träfe, hieße das, dass man zumindest eine Chance hätte, nicht wie ein U-Boot unter dem anderen Fahrzeug zu versinken. Genauso hieße es, wenn man das Pech hat, ein Auto, das sich gedreht hat, von vorne zu treffen, dass das erste Auftreffen auf halber Höhe der Reifen stattfinden würde. Es sind also viele Faktoren dafür ausschlaggebend, wie der Aufprall letztlich abläuft. In einer Win-win-Situation könnte man diese Regeländerungen schon 2016 einführen.


Fotostrecke: Horror-Crash von Carlos Sainz

Die Designer würden es lieben, da sie so etwas von dem Anpressdruck wiederbekommen würden, den sie durch die niedrigen Nasen einbüßten - und dagegen kann niemand argumentieren, denn alles in allem haben die Regeln für 2017 zum Ziel, die Wagen um sechs Sekunden schneller zu machen, auch wenn dieses Extra an Anpressdruck nur ein kleiner Prozentsatz dessen wäre, der dazu benötigt wird, um dieses Ziel zu erreichen. Jedoch hängt alles davon ab, was die Formel 1 aus dem lernen wird, was Carlos Sainz in Sotschi passiert ist. Letztlich ist es keine ausgemachte Sache, dass gehandelt wird, wenn gehandelt werden muss.

"Wenn das passiert, nützt alles Talent nichts mehr und du könntest genauso gut eine 90-jährige Großmutter sein..." Gary Anderson über technische Defekte