Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat

Dass sich die Formel 1 mit schlechten Entscheidungen und übertriebener Bürokratie zugrunde richtet, raubt Chefredakteur Christian Nimmervoll den Schlaf

Titel-Bild zur News: Paddy Lowe

Paddy Lowe kommt von den FIA-Kommissaren, mit Papier in der Hand Zoom

Liebe Leser,

ich vermute mal, dass Nico Rosberg letzte Nacht ziemlich schlecht geschlafen hat. Der WM-Titel ist nach der Nullnummer von Monza praktisch futsch, und zu allem Überdruss konnte er abends auch nicht nach Hause fliegen, wo seine Frau Vivian mit dem neugeborenen Töchterchen wartet, sondern er musste in Mailand bleiben, weil dort heute noch ein PR-Termin ansteht. Auf den hat Nico sicher ganz besonders große Lust.

Auch die McLaren-Champions Alonso/Button sind nicht um ihren Schlaf zu beneiden, zumindest dann, wenn ihre Fähigkeit, zur Ruhe zu kommen, direkt mit den Ergebnissen auf der Strecke zusammenhängt. Hondas Yasuhisa Arai muss nach der extrem scharfen Medienrunde am Samstag, in der lautstark sein Rücktritt gefordert wurde, eigentlich Albträume haben (geht gar nicht anders). Und trotzdem: Am allerschlechtesten geschlafen habe ich letzte Nacht wahrscheinlich selbst.

Warum? Weil ich es kaum noch ertragen kann, mitansehen zu müssen, wie sich die Formel 1 gerade selbst zugrunde richtet. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Vielleicht dabei, dass Millionen deutscher TV-Zuschauer nicht wussten, wer das Rennen gewonnen hat, als RTL und Sky aus den Live-Übertragungen ausgestiegen sind. Schön für uns, weil plötzlich unser Live-Ticker Hochkonjunktur hatte, aber weniger schön für die Fans.

Hamilton ist der richtige Sieger

Ja, ich kann verstehen, warum es zwei verschiedene Messungen gibt, zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Und ich verstehe auch, dass es dann einen Unterschied macht, ob die Heizdecken gerade am Strom hängen oder nicht. Dass Mercedes freigesprochen und Lewis Hamilton als Sieger bestätigt wurde, finde ich korrekt. Aber warum musste es darüber überhaupt eine Diskussion geben, während zehntausende das vielleicht schönste Sport-Podium der Welt feierten - und nicht einmal wussten, ob sie den richtigen Siegern zujubeln?

Man kann es auch übertreiben mit den Regeln. In der Formel 1 gibt es mittlerweile für alles Mögliche irgendwelche Technischen Direktiven, neuerdings eben auch für den vorgeschriebenen Reifendruck. Ohne die Reifenschäden in Spa hätte es die Vorschrift, dass im linken Hinterreifen beim Montieren mindestens 19,5 psi Luftdruck sein müssen, nie gegeben. Sprich: Ohne die Panikreaktion von Pirelli, dass sich ein PR-Desaster wie in Spa in Monza wiederholen könnte, wäre gestern alles ruhig geblieben.

So unsicher können die Reifen trotz der nicht eingehaltenen Pirelli-Vorgaben ja wohl kaum gewesen sein. Wenn doch, dann war es grob fahrlässig von Mercedes-Renningenieur Peter Bonnington, Hamilton mit einem potenziell gefährlichen Auto auf der schnellsten Formel-1-Strecke der Welt zu instruieren, er möge bitte nochmal extra Gas geben. Was im Umkehrschluss nur bedeuten kann: Die Druckvorgaben sind eine Panikreaktion - und man hätte sich das ganze Hin und Her gestern auch sparen können.

Vettels Wutausbruch war erfrischend

Aber wir reden neuerdings ja nicht mehr über diese Dinge. Dass Sebastian Vettel in Spa endlich mal der Kragen geplatzt ist und er offen gesagt hat, was fast alle Fahrer über die Pirelli-Reifen denken (nämlich dass diese "seit Jahren" von schlechter Qualität sind), war ein erfrischender und unzensierter Anfall von Offenheit. Zwei Wochen später klang das alles ganz anders. Und er musste, gemeinsam mit einigen Fahrerkollegen, bei Bernie Ecclestone vorsprechen. Der hatte kurz zuvor Pirellis Engagement für die Formel 1 ausdrücklich gelobt.

Ich war beim Gespräch nicht dabei, mutmaße aber: Den Fahrern wurde nahegelegt, sie mögen in Zukunft sehr genau darüber nachdenken, was sie vor laufenden Kameras über einen Formel-1-Partner sagen, der jedes Jahr Millionen als Seriensponsor investiert. Ein Teil dieses Geldes geht schließlich an die Teams, und die müssen davon wiederum die Fahrergagen zahlen. Also besser Klappe halten.

Mein Kollege Roman Wittemeier war kürzlich bei der WEC am Nürburgring. Dort gibt es nicht nur Mark Webber, sondern auch dutzende andere Fahrer und Ingenieure, die vor nicht allzu langer Zeit in der Formel 1 gearbeitet haben. Davon abgesehen, dass Pirellis Performance von denen - ohne ins Detail gehen zu wollen - in der Regel nur milde belächelt wird, kam in diversen Gesprächen vor allem ein interessanter Aspekt ans Tageslicht.

Und was denken die Exil-Formel-1-Leute in der WEC?

Demnach müssen Vettel und Co. nicht nur nach einem ermahnenden Gespräch bei Ecclestone sehr genau darauf achten, was sie wie über Formel-1-Partner wie etwa den Reifenhersteller sagen, sondern das steht sogar in ihren Verträgen drin. Damit die Obrigkeiten im Fall des Falles daran erinnern können, wie man sich zu verhalten hat - und zwar mit einer juristischen Handhabe als Druckmittel im Hintergrund. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist die Wahrheit.

Ich glaube nicht, dass Vettels Reifenschaden in Spa irgendeinen Zuschauer davon abgehalten hat, in Monza wieder Formel 1 zu schauen. Ich glaube schon, dass sich viele darüber ärgern, dass Vettel zuerst schimpft wie ein Rohrspatz und dann bei der FIA-PK in Monza behaupten muss, seine Aussagen seien falsch dargestellt worden. Der arme Vettel kann wenig dafür. Aber wie sollen bitte Interviews, die live im TV übertragen wurden, falsch dargestellt werden? Nicht an allem sind die Medien schuld.


Fotos: Großer Preis von Italien, Sonntag


Grid-Strafen: Bitte schnell loswerden!

Und eins muss ich noch loswerden: Es kann doch wohl nicht wahr sein, dass sich Jenson Button als 16. qualifiziert, um fünf Plätze nach hinten versetzt wird und dann 15. in der Startaufstellung ist. Die Grid-Strafen sind ein Unkraut, das schnell ausgerissen gehört. Selbst wir in der Redaktion diskutieren am Samstagnachmittag regelmäßig darüber, wer am Sonntag von wo aus starten wird. Ich muss zugeben: Ich habe das Interesse an diesen Diskussionen verloren und überlasse das meinen Kollegen.

Ich habe mich schon oft über die Formel 1 geärgert. Nicht weil ich sie nicht lieben würde, sondern weil sie mir eben nicht gleichgültig ist. Aber vieles fängt an, mir gleichgültig zu werden - und da bin ich (das entnehme ich diversen Leserkommentaren) nicht der einzige. Ich habe keine Lösungen parat, ich weise nur auf Probleme hin. Auf sehr ernsthafte.

"Die Grid-Strafen sind ein Unkraut, das schnell ausgerissen gehört."

Und, zugegeben: Ganz so gleichgültig ist mir das alles wahrscheinlich doch nicht. Sonst hätte ich letzte Nacht nicht schlecht geschlafen.

Ihr

Christian Nimmervoll

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