• 19.08.2015 08:06

  • von Gary Anderson (Haymarket)

Frag Gary Anderson: Was die neue Startprozedur bewirkt

Der ehemalige Formel-1-Designer Gary Anderson beantwortet Fanfragen und erklärt unter anderem die neue Startprozedur und die Kostenfalle Königsklasse

(Motorsport-Total.com) - Wer wird von der neuen Startprozedur profitieren? Und warum geben die Teams trotz Kosteneinsparungen eigentlich noch mehr Geld aus als zu Zeiten der großen Werksteams vor zehn Jahren? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Ex-Technikchef Gary Anderson in dieser Woche und steht den Fans Rede und Antwort. Außerdem versucht er zu erläutern, warum die Zwangsschließung im Sommer sinnvoll ist und warum das Jaguar-Engagement in der Formel 1 ein Debakel war.

Titel-Bild zur News: Gary Anderson

Ex-Designer Gary Anderson erklärt Fans die Welt der Formel 1 Zoom

Matt Leary (Facebook): "Was glaubst du: Welche Teams werden von den geänderten Startregeln profitieren?"
Gary Anderson: "In den vergangenen Jahren haben wir gesehen, dass alle Teams gute Starts machen können. Wenn ein Fahrer einen schlechten Start hat, liegt es meist daran, dass irgendetwas an dem Tag nicht richtig eingestellt ist. Beim Start geht es hauptsächlich darum, die Motor-Umdrehungen zu managen. Der Fahrer hat an der Startlinie eine gewisse Drehzahl und wird einen Kupplungshebel vollständig ausgekuppelt haben und den anderen am Schleifpunkt haben."

"Das ist der Punkt, an dem der Motor das Auto antreiben wird, gleichzeitig aber noch ein wenig rutschen wird. Es ist die Kupplungsposition, die man gerne finden möchte. Es ist wie in deinem Straßenwagen, wenn du dich aus dem Stand wegbewegst. Wenn die Lichter ausgehen, wird der Fahrer die komplett ausgekuppelte Kupplung lösen und die andere in ihrer vorbestimmten Position am Schleifpunkt belassen. Sobald sich das Auto bewegt, sinken die Drehzahlen des Motors."

"Sagen wir, wir sind jetzt bei 4.000 Umdrehungen. Das Motorenmapping wird so eingestellt, dass das Drehmoment erhöht wird, sollten die Drehzahlen weiter sinken - und wenn die Drehzahlen steigen, steigt das Drehmoment ebenfalls. In beiden Szenarien drehen die Reifen beim Fahrer stärker durch. Da die Kupplung noch ein wenig rutscht, überträgt die gestiegene Wärme in der Kupplung mehr Drehmoment - es ist also, als würde man die Kupplung langsam lösen."

"Das erhöht die Drehmomentübertragung durch die Kupplung. Zusammen mit dem Fakt, dass der Fahrer mit dem Kupplungshebel spielen kann, hat er immer noch die Kontrolle, um den Wheelspin niedrig und den Motor in dem kleinen Bereich zu halten, in dem das Drehmoment fahrbar ist, bis er genügend Grip bekommt, um die Kupplung komplett zu lösen. Soweit ich weiß eliminieren die Regeln die Schleifpunkt-Ermittlung, in die die meisten Teams und Fahrer viel Arbeit stecken."

Start zum Grand Prix von Belgien 2013 in Spa-Francorchamps

Der Start wird ab Belgien mehr in der Hand der Fahrer liegen Zoom

"Damit kommt es wieder auf das Gefühl des Fahrers an, wo dieser Punkt ist. Zudem hätte ich gerne gesehen, dass man die Möglichkeit entfernt, beide Kupplungshebel zur gleichen Zeit in unterschiedlichen Positionen zu benutzen. Ich denke nicht, dass ein Team größere Probleme als ein anderes haben wird. Es kommt einfach mehr darauf an, dass der Fahrer das Richtige tut, wenn er das Feedback über den Hosenboden bekommt."

Böse Kostenfalle

Anthony Kernich (Facebook): "Warum geben Formel-1-Teams heute mehr Geld als vor zehn Jahren aus, obwohl es die ganzen Kosteneinsparungen durch Motoreneinfrierung, Motoren- und Getriebelimitierung, Testbeschränkung und Fehlen von Ersatzautos sowie mehr TV-Einnahmen gibt?"
Anderson: "Anthony, Formel-1-Teams werden immer so viele Einnahmen wie möglich ausgeben - manche sogar ein wenig mehr. In der Formel 1 geht es um Wettbewerb, und Wettbewerb kann wie eine Droge sein. Daran zu glauben, dass es dich besser macht, wenn du dieses mit Gold überzogene Dingsbums an deinem Auto hättest, führt dazu, dass du manchmal mehr ausgibst als du solltest."

"Wenn in gewissen Bereichen eine Kostengrenze eingeführt wird, werden die Teams eben als Ausgleich in anderen Bereichen mehr ausgeben. Es gab noch nie irgendeine Kostenkontrolle im Bereich der Entwicklung von Aerodynamikkomponenten. Sie haben es versucht, indem sie die Windkanalzeit reduziert haben, aber das bedeutet nur, dass Teams Komponenten herstellen, die nicht vollkommen erforscht sind."

"Wenn Windkanäle verboten wären, würden die Teams trotzdem noch aerodynamische Teile herstellen, allerdings wäre das meiste davon Rätselraten. Sie müssten die Zeitpunkte reduzieren, an denen ein Team neue Aerodynamikteile einführen darf. Es wäre ein wenig wie die Getriebekontrolle. Gewisse aerodynamische Komponenten müssten X Rennen halten, bevor sie in eine andere Spezifikation gewandelt werden dürften. Um aber auf deine einzelnen Punkte einzugehen..."

"Motoreneinfrierung: Die aktuellen Motoren kosten viel mehr als in den vergangenen zehn Jahren, wenn nicht sogar länger. Die alten V8-Motoren haben die Kosten dramatisch gesenkt, aber die neuen Power-Units kosten vermutlich viermal so viel."

"Getriebe- und Übersetzungseinschränkung: Das hat mit Sicherheit die Kosten reduziert, von daher ist es eine gute Sache. Vermutlich ist es aber nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Ich würde schätzen, dass es drei Millionen Pfund pro Jahr bringt (rund 4,2 Millionen; Anm. d. Red), aber die Motorenkosten sind um rund 15 Millionen Pfund (rund 21 Millionen Euro) gestiegen."

"Eingeschränkte Testfahrten: Alle Teams - oder zumindest die, die es sich leisten können - geben doppelt so viel für hochmoderne Simulatoren aus, in denen die Fahrer in Dauerschleife sitzen. Das hat die Reichen leider von den Armen getrennt. Dass die Systeme aber noch weit von der echten Welt entfernt sind, können wir daran sehen, dass nicht alle Entwicklungen an der Strecke funktionieren."

"Ersatzautos: Die Teams bringen immer noch ein Ersatzauto zu jedem Rennen mit, es steht einfach nur nicht mehr auf den Rädern rum. Es wird teilweise zusammengesetzt in Kisten gelagert, und wenn etwas passiert, dann muss das Chassis ausgetauscht werden, und die Mechaniker müssen doppelt so hart arbeiten, um alles zusammenzusetzen."

Ferrari-Simulator

Simulatoren erhöhen die Kosten in der Formel 1 enorm Zoom

"TV-Einnahmen: Ja, es gibt mehr Geld, aber wenn es an das Verteilen geht, greifen große Teams wie Ferrari mehr ab. Der kleine Kerl, der einfach nur ums Überleben kämpft, sieht kaum etwas davon. Das muss geändert werden, aber wird es je passieren? Ich zweifle es stark an."

Sommerpause? Ja, bitte!

John Barnett (Email): "Ist die erzwungene Schließung im August sinnvoll? Teampersonal kann sicherlich auch außerhalb des Büros an Laptops arbeiten."
Anderson: "John, diese Frage kann am besten von meiner Tochter beantwortet werden. Ihr Ehemann arbeitet in diesem Geschäft, und gäbe es die Pause im August nicht, die mit den Schulferien zusammenfällt, würden sie als Familie nie wegkommen. Während meiner Zeit in der Formel 1 gab es diese Pause nicht, und wir haben es trotzdem gemanagt, aber wenn so etwas Vernünftiges eingeführt wird, wird es viel Groll geben, wenn es wieder weggenommen werden würde."

"Klar kann man sagen, dass die Ingenieure einfach außerhalb des Büros arbeiten können, aber in Realität ist es niemals so einfach, und diese Dinge sollten überwacht werden. Aber für alle Beteiligten - und da zählen auch die Fahrer dazu - schafft es Zeit außerhalb des Büros und kann produktiver sein, als täglich in der Stresssituation zu arbeiten, die sich Formel 1 nennt."

John Potter (Facebook): "Gibt es ein Formel-1-Team, das nicht mehr existiert, für das du aber gerne gearbeitet hättest?"
Anderson: "John, ich habe die Arbeit bei den Underdogs genossen. Ich denke nicht, dass ich mit dieser Tretmühle zurechtgekommen wäre, die die großen Teams sind. Seit ich direkt in Formel-1-Design involviert war, habe ich nur für zwei Teams gearbeitet, die ich für Underdogs gehalten habe: Jordan und Stewart. Wir haben zusammen Rennen gewonnen, von daher war es die meiste Zeit ein tolles Umfeld."

"Sauber war ebenfalls da und hat einen wirklich guten Job gemacht, aber ich wollte niemals in die Schweiz gehen, und in den 90er-Jahren war es ein echtes Schweizer Team - von der Mentalität und der Arbeitsweise. Ich denke, der Rest zwischen 1990 und heute hat die Größe der Herausforderung unterschätzt. Es wird sehr interessant sein, wie sich Haas im kommenden Jahr schlägt. Das Team, wo ich nicht das erreicht hab, was ich wollte, war Jaguar - aber dazu später mehr."


Fotostrecke: Legendäre Formel-1-Teams a. D.

Barry Barnes (Email): "Wer ist für dich im Moment der beste Technikchef - abgesehen von Adrian Newey?"
Anderson: "Das ist eine schwierige Frage, da es einige Clevere gibt, aber eine Person macht niemals die ganze Arbeit. Es ist wie bei den Fahrern: Wer ist der Beste? Das kommt immer auf viele Dinge zur gleichen Zeit an."

"Wenn die Budgets und Einrichtungen alle gleich wären, wäre es viel einfacher einen herauszupicken, aber meine Top-5-Liste wäre: James Key, James Allison, Paddy Lowe, Andrew Green, Aldo Costa. Einige von ihnen hatten die Möglichkeit, mit einem großen, finanziell gut aufgestellten Team zu arbeiten - und andere nicht. Aber für mich besitzen alle eine gute Vision und ein gutes Engagement."

Formel E mehr Show als Racing

Mitchell Scott (Email): "Jetzt wo die Regularien der Formel E offener sind: Wärst du in so etwas gerne involviert gewesen, wenn es die Serie früher gegeben hätte?"
Anderson: "Nein, nicht wirklich. In der Formel E geht es nicht um Racing, sondern um Show. Das einzig Gute ist, dass es Fahrern ein Zuhause bietet, die den Anschluss an die Formel 1 verpasst haben. Elektroautos sind noch weit von dem entfernt, was wir als Rennsport kennen."

Loic Duval, Stephane Sarrazin

Die Formel E hat es Gary Anderson bislang nicht angetan Zoom

"Ich glaube sogar, dass die Formel E zeigt, wie weit Batterietechnik noch davon entfernt ist, fossile Brennstoffe zu überholen. Für mich sind die kontrollierten Boxenstopps zum Autowechsel einfach kein Racing. Wenn sie es wegen der Batteriekapazität machen müssen, warum hat man dann nicht einfach zwei Fahrer und macht es als Staffel? Ein Auto kommt rein, fährt über eine Linie, und das andere Auto fährt mit einem anderen Fahrer raus."

Chris Bowman (Email): "Meine Frage hat zwei Teile: Gibt es mit breiteren Reifen, einer möglichen Wiedereinführung des Ground-Effekts und einem möglichen Wechsel des Reifenherstellers die Möglichkeit, Reifenwärmer zu verbannen? Und welchen Einfluss hätte ein Wechsel auf 18-Zoll-Räder auf Federzahl und Aufhängung? Würde sich die Aufhängung sichtbar mehr bewegen?"
Anderson: "Chris, die Reifenwärmer könnten von heute auf morgen verschwunden sein, aber warum? Ich schätze wegen der Kosten, aber schauen wir uns das einmal aus anderer Perspektive an. Ein Topteam mit zwei Autos zu haben, kostet im Durchschnitt 200 Millionen Pfund (rund 282 Millionen Euro) pro Saison. Das Geld wird auf verschiedene Weisen eingesetzt, aber am Ende geht es immer darum, dass zwei Autos um eine Rennstrecke fahren."

"Jedes Team legt in 20 Rennen ungefähr 30.000 Kilometer zurück, dazu kommen Testfahrten mit ungefähr 10.000 Kilometern. Damit kommt man ungefähr auf 40.000 Kilometer. Damit kommt man auf 5.000 Pfund pro Kilometer oder 25.000 Pfund pro Runde auf einer Fünf-Kilometer-Strecke. Wenn man jedes Mal eine Extrarunde fahren müsste, um die Reifen auf Temperatur zu bekommen, dann wäre das viel Geld, und davon könnte man viele Reifenwärmer kaufen."

"Bezüglich der 18-Zoll-Felgen bin ich mir nicht sicher, ob man so viel sehen würde. Die aktuelle Aufhängungssteifigkeit basiert auf der Steifigkeit des aktuellen Reifens, und eine Komponente kann nicht die ganze Arbeit verrichten, während die andere gar nichts tut. Mit 18-Zoll-Felgen könnte man einen steiferen Reifen bekommen, dadurch könnten die Teams aber auch bei den Aufhängungseinstellungen steifer werden und trotzdem die Steifigkeitsbalance zwischen Reifen und Aufhängung erhalten."

Warum Jaguar so schlecht war

Liam O'Rourke (Facebook): "Das Jaguar-Team war eine gute Idee und so vielversprechend. Was lief falsch?"
Anderson: "Liam, diese Kolumne ist nicht lang genug, um ins Detail zu gehen. Es reicht zu sagen, dass einfach der Lichtschalter ausgeknipst wurde, als Jackie Stewart ging und das Ford-Management übernahm. Die Motivation wich einfach aus dem Team. Ford und die Leute, die für sie arbeiteten, glaubten, dass sie die Weisheit mit Löffeln gefressen haben. Oder wie einer in Meetings immer sagte: 'Macht es auf dem Ford-Weg oder wir holen jemanden, der es so macht.' Wo ist das bitte Motivation?"

"Eine Sache, die Ford damals hatte, war ein Auswertungssystem, das ein Gewicht pro Forschungswoche hatte. Wenn sie bei einem Projekt vier Wochen Forschung für dich betrieben haben, dann mussten sie einen Bericht einreichen, der X Pfund wog. Dabei ging es nicht um den Inhalt, sondern um das Gewicht des eigentlichen Dokuments. Dinge wurden immer einfach wiederholt und wiederholt, aber eigentlich nie gelesen."

Eddie Irvine (Jaguar Racing)

Flop: Das Jaguar-Team konnte die Erwartungen nicht erfüllen Zoom

"Meine erste Anfrage war, mir eine Zusammenfassung eines jeden Berichts eines Forschungsprojektes auf einer A4-Seite zu schicken, und damit wollte ich entscheiden, ob eine weitere Untersuchung sinnvoll ist. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass es bei denen da oben nicht gut ankam."

"Ja, es gab Probleme mit dem Jaguar R1, aber die Basis des Autos war ziemlich gut. Wenn man in einer solchen Situation steckt, dann muss man die Leute motivieren, die Probleme zu lösen, und sie nicht weiter treten, wenn sie ohnehin schon unten sind. Wenn sie richtig motiviert werden, dann finden sie sogar mehr Energie um weiter zu lernen und zu kämpfen, nachdem sie die aktuellen Probleme überwunden haben."

"Die Managementveränderungen, die auch nach meinem Abgang noch weitergingen, waren nur ein Beispiel dafür, dass eigentlich niemand das Schiff gesteuert hat. Ich schätze, dass sie geglaubt haben, dass sie einen Glückstreffer landen würden, wenn sie die Managementstruktur nur häufig genug ändern."