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  • 20.07.2015 21:36

  • von Gary Anderson (Haymarket)

Frag Gary Anderson: Was Ground-Effect für die Formel 1 tut

Der ehemalige Formel-1-Designer Gary Anderson beantwortet Fanfragen und klärt heute, was der Ground-Effect bewirkt und was größere Reifen eigentlich bringen

(Motorsport-Total.com) - Bevor ich anfange Fragen zu beantworten, gibt es etwas, das Priorität genießt. In der Nacht zum vergangenen Samstag haben wir mit Jules Bianchi einen sehr talentierten und extrem freundlichen jungen Mann verloren. Es war eine Freude, mit ihm zu reden, und im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen hatte er immer Zeit für dich. Keine Worte können jemals den Schmerz lindern, durch den seine Familie gerade geht, aber unsere Gedanken und Gebete sind bei ihnen.

Titel-Bild zur News: Gary Anderson

Gary Anderson kennt sich als Ex-Designer bestens mit der Formel 1 aus Zoom

Über allen vorgeschlagenen Veränderungen, die Formel 1 "aufregender" zu machen, sollte man hauptsächlich sicherstellen, dass so ein sinnloser Unfall wie bei Jules nie wieder auftritt. In meinen 43 Jahren im Motorsport haben sich viele Dinge verändert, aber eine Sache ist immer wieder zurückgekehrt: ein komplett ungeschützter Bagger, der auf der Rennstrecke fährt, um ein gestrandetes Fahrzeug zu bergen.

Eine Lösung zu finden, liegt in der Verantwortung der FIA. Weil es aus Sicherheitsgründen gemacht wird, können die Egos von keinem Komitee, keiner Arbeitsgruppe und keinem Teameigner den notwendigen Veränderungen der Behörde im Weg stehen. Jetzt ist es an der Zeit zu handeln, bevor wir noch jemand anderes verlieren.

Patrick Byrne (Twitter): "Wenn die Formel 1 Ground-Effect-Aerodynamik zurückbringen will, müssen die Autos dann breiter sein?"
Gary Anderson: "Patrick, sie müssen nicht wirklich breiter sein. Es müssen einfach Unterboden-Regelungen her, und wie man die Außenseite des Unterbodens dimensioniert, kommt auch auf die Breite der inneren Seitenwände der aktuellen Reifen an. Wenn man auf die vorherige Ära der Ground-Effect-Autos schaut, mit denen jeder die potenziellen neuen Regeln vergleicht, dann waren die Autos sehr breit, das stimmt."

"Der kritische Bereich ist der Abstand zwischen der inneren Seitenwand des Hinterreifens und der Seite des Getriebes. Im Vergleich zur Vergangenheit ist der Hauptteil der aktuellen Getriebe aus Gewichtsverteilungsgründen nach vorne gerutscht. Darum sind sie im wichtigen Teil auch sehr schmal. Das bedeutet, dass die Breite des Diffusors, was den Unterboden funktionieren lässt, breiter als in der Vergangenheit sein kann."

Toro Rosso

Dem Unterboden könnte wieder größere Bedeutung zukommen Zoom

"Die eine Sache, die sie aber nicht aus der Vergangenheit kopieren möchten, sind die Randleisten. Das ist der Bereich, aus dem sie sich fernhalten sollten und einfach nur eine Art Wirbel-erzeugende Sektion an den äußeren Extremitäten der Unterbodenseiten erlauben sollten. Gleichzeitig müssen die Autos breiter werden, um sich an die breiteren Reifen anzupassen - speziell hinten. Im Moment liegt die Gesamtbreite bei 180 Zentimetern; bei fünf Zentimeter breiteren Hinterreifen muss man auf 190 Zentimeter gehen."

Die Hinterreifen müssen breiter werden

"Ich würde die Hinterreifen allerdings noch breiter machen. Ich glaube, dass die Reifen die dominierende Gripkomponente sein müssen. Wenn man das tut, können die Teams mit riesigen Budgets die kleinen, weniger betuchten Teams nicht mehr überpowern. Der Wettbewerb wird enger. Zudem würden die Autos nicht nur aggressiver aussehen, sondern auch aggressiver sein. Mein Vorschlag wäre eine Gesamtbreite von 200 Zentimetern, bei der sich die Felgenbreite von 34,8 Zentimeter auf 44,8 Zentimeter erhöht."

"Das würde mehr Gewichtung auf die Aufhängungsgeometrie legen, da es nicht einfach wäre, eine Reifenauflagefläche über diese Breite zu bekommen. Wenn man es hinbekommt, dann würde es einen großen Unterschied für den Reifenabbau machen, weil derzeit alles von der aerodynamischen Effizienz beherrscht wird. Es würde zudem den Luftwiderstand erhöhen und sie stoppen, dumme Höchstgeschwindigkeiten zu erreichen."

Stuart Crooks (E-Mail): "Pat Symonds meinte in der Arbeitsgruppe Überholen, dass verwirbelte Luft von Flügeln 'guter Abtrieb' sei, weil sie weit weniger verwirbelt sei als von Chassis/Unterboden/Diffusor, was 'schlechter Abtrieb' sei und es Autos erschwert, dem Vordermann zu folgen. Ich dachte immer, es sei andersherum."
Anderson: "Stuart, ich denke, dass die Ergebnisse der Arbeitsgruppe komplett fehlerhaft sind. Das Modell, das sie benutzt haben - und speziell die Flügeldesigns - waren bereits seit Jahrzehnten veraltet. Der Frontflügel war extrem simpel und nicht das komplexe Multi-Element-Design, das wir aktuell sehen und das den Luftstrom an der Unterseite aufs Maximum ausreizt."


Fotostrecke: Die zehn denkwürdigsten F1-Regeländerungen

"Das Auto als Gesamtpaket und besonders die Reifen verursachen die Turbulenzen. Der Heckflügel verursacht einen aufsteigenden Luftfluss, der hinter dem Fahrzeug einen Bereich von Unterdruck erzeugt. Durch den Unterdruck wird ein dahinter fahrendes Fahrzeug angezogen, gleichzeitig geht aber auch Anpressdruck verloren. Ein niedrigerer Luftdruck produziert weniger Abtrieb und weniger Luftwiderstand als ein hoher Luftdruck."

"Der Unterboden ist gut darin, sehr effizienten Abtrieb zu generieren. Er kümmert sich nicht so sehr um verwirbelte Luft, weil er als erweiterter Schacht arbeitet. Wenn man den Luftstrom an der Oberfläche des hinteren Unterbodens halten kann, dann wird der schnelle Luftstrom, der durch die Verengung am nächsten zum Boden durchfließt, den Abtrieb produzieren. Und wie immer gilt: Je besser der Luftstrom, desto besser der Abtrieb. Man muss nur die Verluste im Verkehr und turbulenter Luft lösen, und der Unterboden wird dazu beitragen."

Keine Nachteile bei größeren Reifen

@motorace_addict (Twitter): "Was sind die Vor- und Nachteile von größeren Reifen?"
Anderson: "Es gibt viele Vorteile, aber ich bin mir nicht sicher, ob es auch Nachteile gibt. Wenn ja, dann sind sie nicht unüberwindbar. Die erste Frage ist: Ist es notwendig und aus welchem Grund?"

"Meiner Meinung nach wäre der einzige Grund, es an die aktuellere Reifentechnologie auszurichten. Dabei müssen wir aber bedenken, dass Seitenwände bei Rennwagen anders sind als bei den Straßenwagen. Es wäre mehr eine visuelle Sache als alles andere. Wir müssen es nicht übertreiben, von daher denke ich, dass 18 Zoll als Durchmesser eine gute Balance wären."

Vorteile
"Ein größerer und flacherer Gummi-zu-Straße-Kontakt kann mit diesem Reifendesign erreicht werden. Wie bereits oben geschildert, würde es den Fokus auf die Aufhängungsgeometrie erhöhen. Ein größerer Anteil der Bewegung des Autos würde durch die Aufhängung gehen, und man könnte diese Bewegung durch die Nutzung der Dämpfer besser kontrollieren."

"Im Moment geht 50 Prozent der Bewegung des Autos durch die Reifen, die im Grunde unkontrolliert ist, wie man in Zeitlupe sehen kann. Um den nötigen Lenkeinschlag und die Aufhängungssteifigkeit zu bekommen, sind die äußeren Enden der Aufhängungsstreben und der Lenkstangen eines der kompliziertesten Designfelder eines aktuellen Autos. Größere Reifen würden das vereinfachen."

Charles Pic

Die Reifen sollen wieder einen größeren Durchmesser erhalten Zoom

Nachteile
"Da fallen mir im Moment keine ein."

Andrew Potter (Twitter): "Warum gibt es in diesem Jahr so viele verschiedene Airboxen?"
Anderson: "Andrew, nach der vergangenen Turboära bis 2014 waren alle Formel-1-Motoren selbstansaugend, was bedeutet, dass sich der Motor seine Luft komplett selbst holen musste und soviel wie möglich davon durch die Airbox, durch die Einlassventile und in den Zylinder ziehen und dabei auch noch Benzin mitnehmen musste."

"Ein selbstansaugender Motor besitzt ein Ansaugtraktsystem, das ungefähr mit 125-prozentiger Effizienz arbeitet. Das bedeutet, dass ein 2,4-Liter-Motor ungefähr die Leistung eines Drei-Liter-Motors ausspuckt, wenn das Design der Airbox ordentlich funktioniert. Das ist nicht einfach, aber machbar, bedeutet aber, dass der Einlass entsprechend dimensioniert sein muss, um auch bei niedrigen Geschwindigkeiten einen guten Luftstrom zu ermöglichen. Gleichzeitig darf er aber auch nicht zu groß sein, weil der Luftstrom um die Motorabdeckung bei hohen Geschwindigkeiten zu sehr gestört werden würde, was auch der Performance des Heckflügels schaden würde."

"Bei den aktuellen Turbomotoren muss der Turboeinlass einen vernünftigen Luftstrom bekommen. Danach übernimmt der Turbo und erreicht sein Ziel sowohl bei niedrigen als auch bei hohen Geschwindigkeiten, je nachdem welchen Ladedruck man fahren kann. Der Einlass kann daher etwas kleiner ausfallen, sodass der Luftstrom um die seitliche Motorabdeckung nicht so sehr gestört wird, was dem Heckflügel mehr Effizienz ermöglicht."

Was Schumacher allen voraus hatte

Jay Menon (E-Mail): "Wenn du freie Auswahl zwischen all den Fahrern hättest, denen du in deiner Formel-1-Karriere über den Weg gelaufen bist: Welche zwei würdest du für 2016 nehmen und warum?"
Anderson: "Wenn ich freie Auswahl hätte, und meine Auswahl auf die Fahrer begrenze, die ein Formel-1-Auto mit meiner Beteiligung gefahren haben, dann wäre meine Wahl einfach: Michael Schumacher. In seinem einen Wochenende, das er für Jordan 1991 in Spa gefahren ist, stachen sein pures Talent und sein Engagement heraus. Er hat verstanden, was es braucht, um ein Gewinner zu sein. Er hat ein wenig dafür gebraucht, aber das haben alle."

"Sein Engagement im Bereich körperlicher Fitness war einzigartig, aber er hat etwas noch wichtigeres in die Formel 1 mitgebracht, das ich zuvor bei noch keinem anderen Piloten gesehen hatte: mentale Fitness. Er hat gemerkt: Je mehr geistige Kapazitäten er beim Fahren des Autos übrig gehabt hat, desto besser konnte er analysieren, was passiert, und es dann nutzen, um nicht nur das Auto schneller zu machen, sondern auch seine eigene Performance zu verbessern."

"Beim zweiten Fahrer tu ich mich etwas schwerer, und ich muss aus vier Fahrern auswählen. Giancarlo Fisichella war ein außergewöhnlich talentierter Fahrer, aber er hat das lateinische Temperament einschleichen lassen, was ihn zu oft zermürbt hat. Wenn er jemanden an seiner Seite gehabt hätte, der gewusst hätte, wie man ihn davor beschützt, dann hätten wir eine andere Person gesehen."

Giancarlo Fisichella

Fisichella und Schumacher würden für Anderson eine gute Paarung abgeben Zoom

"Rubens Barrichello war ebenfalls außergewöhnlich talentiert, aber ich denke, dass er den Tod von Ayrton Senna in den Weg seiner Karriere gelassen hat. Ich glaube, dass er gedacht hat, dass er für die brasilianische Öffentlichkeit der nächste Ayrton sein müsste, was sein eigenes Talent beeinflusst und Druck geschaffen hat. Er hat versucht, etwas zu sein, das er nicht war und niemals sein konnte. Es wird nie einen weiteren Ayrton Senna geben."

"Roberto Moreno hat nie die Möglichkeiten bekommen, die sein Talent verdient hätte. Ihm wurde von Benetton eins reingewürgt, als Schumacher kam, und er hat sich nie davon erholt. Aber in meiner Zeit mit ihm 1988, als wir gemeinsam die Formel-3000-Meisterschaft gewonnen haben, war es eine Freude, mit ihm zu arbeiten. Zudem hatte er das gleiche, was ich über Michael gesagt habe: die notwendige Extrakapazität, anstatt nur das Auto zu fahren."

"Meine Liste wäre nicht komplett ohne Eddie Irvine. Von Natur aus sehr talentiert und ein echter Charakter. Er wusste, wie man fährt und wie man die Rundenzeit aus dem Auto holt, und auf seinem Weg hat er keine Gefangenen gemacht. Er hat sich einen feuchten Kehricht um den Betrieb geschert. Er hat mich meistens verrückt gemacht, aber auf positive Art. So wie es Bernie mit ein paar um sich herum heute tun könnte."

Weg mit den blauen Flaggen? Sofort!

David Mortimore (E-Mail): "Was denkst du über die Abschaffung des notwendigen Beiseitefahrens der Hinterbänkler bei blauen Flaggen? Designer müssten sich darauf konzentrieren, das Auto auch im Verkehr zum Funktionieren zu bringen, und die Führenden wären zum Überholen gezwungen, als einfach nur vorbeizufahren. Das könnte den Kampf an der Spitze spannender machen."
Anderson: "David, ich könnte dir nicht mehr zustimmen. Das ist genau das, was getan werden muss. Hinterbänkler zu überholen war das, was die guten Jungs früher drauf hatten und ist Teil der Fähigkeiten eines Grand-Prix-Piloten. Es wäre interessant zu hören, was David Coulthard dazu sagt. Er hat den Großteil des Monaco-Rennens 2001 hinter Enrique Bernoldis Arrows verbracht, auch wenn er um die Position gekämpft hat. Aber ich bin überzeugt, dass wir komplettere Fahrer hatten, als die Piloten noch mit den Hinterbänklern zu tun hatten."

Marcus Briggs (E-Mail): "Die Vorschläge über die Zukunft der Formel 1 scheinen wieder vernünftiger zu werden. Ist das für dich ein Zeichen, dass wieder mehr Vernunft in die Formel 1 einzieht?"
Anderson: "Marcus, das kann ich nur hoffen. Viel zu lange hatten wir die Egos von Leuten, die mit ihren Änderungen Leute überstimmen konnten, die die realistische Seite sehen und Dinge zum Funktionieren bringen können. Diese Gruppen beinhalten entweder die falschen Leute (wie die Strategiegruppe) oder es sind Leute involviert, die von den Menschen an der Spitze in Handschellen gelegt sind. Wenn es so bleibt, entsteht viel heiße Luft, und nichts wird sich ändern."


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"Die Leute, die in der Formel 1 involviert sind - und ich war viele Jahre lang einer von ihnen - halten die Formel 1 für Raketenwissenschaft. Wenn man in die Außenwelt geht, realisiert man, dass sie es nicht ist. Die Leute möchten ein enges und konkurrenzfähiges Angebot, und wenn man die Regeln so schreiben würde, dass kein Team oder Motorenhersteller zu weit von der normalen Performance voraus gehen dürfte, dann würde das passieren."

"Es ist falsch, Red Bull für seine vierjährige Dominanz zu verurteilen - oder Mercedes für das zweite Jahr der totalen Dominanz. Ihr Job ist es, innerhalb der Regeln das konkurrenzfähigste Paket zu bauen. Einige Teams treiben es etwas weiter als andere, aber es ist der Job der FIA, die Regeln zu schreiben und zu überwachen, sodass man auf Dominanz immer reagieren kann. Es wird Zeit, so etwas zu tun."

Einfachheit ist Trumpf

Ruraidh Conlon O'Reilly (E-Mail) "Besitzt du irgendein von dir designtes Auto und interessiert es dich, was nach der Saison mit deinen Autos passiert?"
Anderson: "Ruraidh, bedenke, dass ich für Eddie Jordan gearbeitet habe, und seine Preise waren weit über meiner Reichweite! Es hat mich nicht wirklich interessiert, eines meiner Autos zu besitzen. Für mich war das nächstjährige Auto die Herausforderung und wie man nach vorne gehen kann."

"Mit der Zeit haben sich die Dinge aber drastisch geändert. Ab Mitte 1993, als wir auf eine elektronische/hydraulische Gangschaltung gegangen sind, hatten wir ein Bild von der 1991er Schaltung an der Pinnwand des Designbüros hängen und daneben die simple Nachricht: 'Damit wir es nicht vergessen.' Es war einfach eine Stahlröhre, die mit einem Gelenk mit dem Auswahlhebel verbunden war. Es erinnerte uns daran, wie einfach Dinge sein können, im Gegensatz zur Richtung mit Schaltwippen, Kontrollboxen, diversen hydraulischen Bedienelementen und Hydraulikpumpen, nur um im Grunde das gleiche zu erreichen."

Michael Schumacher

Der Jordan von 1991 stammt auch aus dem Kopf von Gary Anderson Zoom

"Es besorgt mich etwas, wo meine Autos hingegangen sind. Wie alle High-Performance-Autos brauchen sie Fürsorge, und ich bin nicht sicher, dass es in der Welt so läuft, wie es sollte. Manchmal helfe ich meinem Schwager Bob Simpson, der bei Anson vor vielen Jahren mein Partner war. Er hat eine Firma, die alte Rennwagen wieder aufbaut. Wenn man einige sieht, wie sie erhalten sind, dann ist das manchmal ziemlich gruselig."