• 03.06.2015 17:07

  • von Bernd Mayländer

Bernd Mayländer: Anekdoten aus Kanada

Die Kolumne des Safety-Car-Fahrers: Wie Bernd Mayländer den Strategie-Fauxpas in Monte Carlo und den Kubica-Unfall in Montreal 2007 erlebt hat

Titel-Bild zur News: Bernd Mayländer

Bernd Mayländer schreibt in seiner Kolumne über die Formel 1 Zoom

Hallo, liebe Leser,

bevor ich auf den Grand Prix von Kanada eingehe, müssen wir über das letzte Rennen sprechen. Typisch Monaco: Da passiert 62 Runden lang nix, aber dann stellt's plötzlich alles auf den Kopf! Lewis Hamilton, das muss ich zugeben, tut mir leid. Er hat das ganze Wochenende dominiert, stand zurecht auf Pole, ist vorne weggefahren. Ich habe schon nach zehn Runden zu meinem Beifahrer Peter Tibbetts gesagt: "Das ist in trockenen Tüchern, wenn nichts Großartiges mehr passiert. Er wird den Boxenstopp machen, wenn er möchte, und Nico Rosberg muss nachziehen. Der macht alles richtig."

Dann der heftige Einschlag von Max Verstappen, ich muss mit dem Safety-Car auf die Strecke. Das Medical-Car wird mit mir rausgeschickt. Ich bekomme den Funkspruch von Race-Control, fahre raus und warte auf den Führenden, da sehe ich auf einem Panel auf einmal "Virtual Safety-Car" eingeblendet. Ich erschrecke kurz: War der Funkspruch nicht richtig, habe ich etwas falsch verstanden? Aber mein Kollege verneint: Alles richtig gemacht, wir haben ja "Standby" und "Deploy" gehört. Und dann wird ganz schnell wieder von "Virtual Safety-Car" auf "echtes" Safety-Car umgeschaltet.

Track-Position geht in Monaco über alles

Zu Beginn der 65. Runde habe ich den Mercedes von Lewis im Rückspiegel. Er hat zu dem Zeitpunkt 27,2 Sekunden Vorsprung auf Nico, wie hier auf dieser Website schon rekonstruiert wurde. Weil Nico noch nicht eingesammelt ist, Lewis aber schon, schmilzt dieser Vorsprung bis zum Ende der Runde auf 16,1 Sekunden. Plötzlich biegt Lewis an die Box ab. Mir ist sofort klar: Das geht schief. Ich kann bis heute nicht nachvollziehen, welche Logik die Mercedes-Strategen damit verfolgen wollten.

Für mich war die spannende Frage nach der ersten Kurve, wer hinter mir rumkommt. Wenn es etwas Silbernes ist, dann muss es Nico sein, und wenn es etwas Rotes ist, dann heißt der Sieger Sebastian Vettel. Es war Nico vor Sebastian und Lewis - aber relativ knapp. Bei der Siegerehrung stand ich ganz vorn und konnte Lewis beobachten. Er mag manchmal einen Hang zum Theatralischen haben, aber dass er in der Situation richtig, richtig enttäuscht war, das kann ich hundertprozentig nachvollziehen.

Nico Rosberg

In Monaco tauchte plötzlich Nico Rosberg hinter dem Safety-Car auf Zoom

Und ich kann auch nachvollziehen, dass er in der Auslaufrunde am liebsten stehen geblieben und gar nicht mehr zur Siegerehrung gekommen wäre. Jeder, der ihm da böse gewesen wäre, versteht nicht, wie ein echter Motorsportler tickt. Ich würde ihm so etwas nicht einmal dann nachtragen, wenn ich sein Chef wäre. Und so sah es wohl auch Toto Wolff, der sich bei Lewis während eines seiner Interviews vor laufenden Kameras entschuldigt hat.

Tolle Stadt, tolles Wetter, toller Grand Prix

Nach der Europa-Kurztournee mit zwei Rennen fliege ich immer wahnsinnig gern nach Montreal. Ich empfinde den Grand Prix von Kanada als angenehme Verlängerung des Frühlings: Alles sprießt da drüben, die Temperaturen sind meistens sehr angenehm - am kommenden Wochenende zwischen 23 und 26 Grad. Tolle Landschaft am Wasser, spezielle Atmosphäre. Und Montreal ist eine großartige Stadt mit allen Möglichkeiten.

Für mich hat sich das Nachtleben ein bisschen verändert - ich werde ja nicht jünger... ;-) Anstatt von Club zu Club zu ziehen, sucht man sich abends eher ein schönes Restaurant raus, und davon gibt's in Montreal wirklich sehr viele. Besonders im französischen Teil der Stadt kann man ganze Abende am Wasser verbringen, gut essen und die Seele baumeln lassen, während man den hübschen Franko-Kanadierinnen beim Spazieren zuschaut. Wenn auch noch das Wetter stimmt, hat man da die tollsten Aussichten!


Fotostrecke: FIA-Fast-Facts Montreal

Im neueren Teil von Montreal gibt's viele Cafes und Bars, ein ganz spezielles Formel-1-Nachtleben, weil alle gern abends weggehen. Ein heißer Tipp ist die Code-20-Party am Sonntagabend, zu der viele Formel-1-Stars kommen. Da kann's schon mal passieren, dass ein Sergio Perez alle paar Minuten zum Eingang kommt, um wieder irgendwelche Mädels aus der Warteschlange reinzuholen. Ich werde die Party dieses Jahr auslassen, treffe mich mit ein paar Freunden, die aus New Jersey hochfahren, und habe abends noch eine Mercedes-Veranstaltung.

Heißer Tipp: Cirque du Soleil

Die Anreise nach Montreal ist bei weitem nicht so mühsam wie bei anderen Übersee-Rennen. Ich fliege von Deutschland aus knapp sieben Stunden, der Flughafen in Montreal liegt sehr zentral, die Wege zwischen den Hotels in der Stadt und der Rennstrecke sind kurz. So muss ein angenehmer Wochenend-Ausflug aussehen. Ich kenne niemanden, der ungern nach Montreal reist. Alle freuen sich drauf. Man kann zum Beispiel auch wunderbar Sport machen und den Fluss entlanglaufen.

Der Cirque du Soleil ist sowieso immer eine Empfehlung, wenn man dafür ein Faible hat. Was diese Artisten leisten, ist beeindruckend. Und ich finde die Kanadier als Volk wahnsinnig freundlich und nett: Kein Taxifahrer, der nicht (zumindest) Englisch und Französisch spricht, alle sehr höflich, alle leben den Grand Prix. Und die Bevölkerung ist sehr international, was zu einer insgesamt bunten und lebhaften Atmosphäre in der Stadt beiträgt.

Nico Rosberg, Sebastian Vettel, Lewis Hamilton, Valtteri Bottas, Felipe Massa

In Montreal kommt das Safety-Car fast jedes Jahr einmal zum Einsatz Zoom

Vom Streckencharakter her ist Montreal Topspeed, Bremse, Traktion. Was man nicht vergessen darf, ist der Benzinverbrauch. Selbst wenn da andere Teams näher rangerückt sind, glaube ich, dass Mercedes insgesamt die besten Karten hat. Es geht auf den langen Geraden um Power, Power, Power, daher schätze ich, dass viele mit neuen Motoren antreten werden. Und man muss sich das Rennen gut einteilen, um mit Benzin- und Bremsverschleiß nicht in Probleme zu geraten.

Erinnerungen an den Kubica-Crash

Montreal bietet gute Überholmöglichkeiten, insofern erwarte ich ein unterhaltsames Rennen. Außerdem ist ein Rennen ohne Safety-Car-Phase dort etwas Seltenes, weil die Betonmauern relativ nahe an der Fahrbahn stehen. Es hat schon verrückte Grands Prix von Kanada gegeben. Ich erinnere mich an das längste Rennen der Geschichte, 2011, als ich zwischendurch in der Race-Control Zeit für Kaffee und Kuchen hatte, oder an den Crash von Robert Kubica 2007.

Die Erinnerungen daran sind noch besonders lebhaft, die Bilder habe ich vor mir: das abgerissene Cockpit, die vorstehenden Beine, wie er nach dem Überschlag auf dem Kopf lag. Als ich das erste Mal vorbeigefahren bin, dachte ich mir: "Das sieht wirklich ganz, ganz böse aus!" Wir sind alle extrem langsam an der Unfallstelle vorbeigefahren, um den vielen Wrackteilen auszuweichen. Umso größer war dann die Erleichterung, als wir gehört haben, wie gut es ihm geht.


Streckenvorstellung: Hamilton über Montreal

Der Mercedes-Pilot erklärt, was das Besondere am Kanada-Grand-Prix ist Weitere Formel-1-Videos

Damals haben die Bildschirme im Safety-Car noch nicht so tadellos funktioniert wie heute. Wir hatten links einen Monitor, auf dem das kanadische TV-Bild gezeigt wurde, mit Werbeunterbrechungen. Im ersten Moment dachte ich, die zeigen irgendeinen alten Unfall - aber in dem Moment kam auch schon das Signal "Standby", und da war mir alles klar. Wir haben uns natürlich auf unseren Job konzentriert, aber wir waren auch betroffen.

Beweis für die Sicherheit in der Formel 1

Als die unmittelbare Gefahrensituation an der Unfallstelle bereinigt war, haben wir über Funk nachgefragt, wie es Robert geht. Keiner konnte Auskunft geben, aber etwas später hieß es, es gehe ihm "den Umständen entsprechend gut". Das kann bei so einem Einschlag vieles heißen. Kurz darauf bekamen wir die Information, dass er ansprechbar und in einem sehr guten Zustand ist, aber zur Sicherheit ins Krankenhaus geflogen wird.

Das war noch während des Rennens, und da war die Erleichterung groß. Normalerweise weiß ich ja bis nach dem Rennen nicht, wie es einem verletzten Fahrer nach so einem Unfall geht. Das war einer der schlimmsten Unfälle, die ich je während eines Rennens erlebt habe, mit dem unglaublichsten Ausgang. Er war ja schon ein paar Tage später wieder fit auf den Beinen - und hat, was sowieso wie ein Märchen ist, just jenen Grand Prix ein Jahr danach gewonnen.

Robert Kubica

Horrorunfall von Robert Kubica beim Kanada-Grand-Prix im Jahr 2007 Zoom

Übrigens: Der Kubica-Unfall, der Einschlag, der Überschlag dient als Beispiel-Unfall für viele Simulationen, weil dort alle Sicherheitssysteme perfekt funktioniert haben. HANS-System, Side-Impact, Front-Impact - es war ein Musterunfall, wie positiv so etwas ausgehen kann. Ich bin auf dem Gebiet kein Experte, aber zehn Jahre davor hätte er das wahrscheinlich noch nicht überlebt. Hoffen wir, dass die Sicherheitssysteme am kommenden Wochenende nicht auf die Probe gestellt werden!

Euer

Bernd Mayländer

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