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Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat

Schon wieder Nico Rosberg: Was seine Situation bei Mercedes mit den Stadien der Trauer zu tun hat und wo vor einem Jahr alles begonnen hat schiefzulaufen

Titel-Bild zur News: Nico Rosberg

Nico Rosberg läuft Gefahr, im Team zur Nummer 2 abgestempelt zu werden Zoom

Liebe Leser,

Sie kennen es sicher schon, unser montägliches Spielchen, wer denn letzte Nacht (im übertragenen Sinn) "am schlechtesten geschlafen" hat. Aber beim Grand Prix von China in Schanghai einen offensichtlichen Verlierer des Wochenendes auszuwählen, ist gar nicht so einfach.

Ja, der Formel-1-Fan an sich könnte einer sein, denn nach dem Langweiler in Melbourne und dem Kracher in Sepang stand diesmal wieder Langeweile auf dem Programm: vorne der Mercedes-Express, der sich nicht groß anstrengen muss, um Rennen zu gewinnen, und dahinter ein Paarlauf mit Ferrari und Williams. Das ist nicht der explosive Stoff, weswegen man an einem Sonntag gern etwas früher aufsteht als sonst.

Max Verstappen ist kurz vor Ende ausgeschieden, aber der Niederländer (oder doch Belgier?) hat die tollsten Überholmanöver des Rennens gezeigt und muss sich um seine Karriere derzeit keine Sorgen machen. Und McLaren-Honda fährt immer noch hinterher, aber zumindest knabbern Fernando Alonso und Jenson Button mit großem Hunger an ihrem Rückstand. Bleibt Nico Rosberg. Und den hatten wir für unsere Montags-Kolumne schon nach dem Saisonauftakt ausgewählt.

Zahlen lügen nicht

Aber es hilft nichts: Bei aller Sympathie bleibt uns nach Schanghai gar nichts anderes übrig, als Nico am dritten Formel-1-Montag 2015 zum zweiten Mal für diese fragwürdige Ehre zu nominieren. 0:3 im Qualifying-Duell (was 2014 noch seine große Stärke war), 0:3 Bilanz im Rennen, 0:2 Siege, 51:68 Punkte gegen Lewis Hamilton - und der war noch dazu in fünf von acht Freien Trainings schneller, in denen beide eine Zeit gesetzt haben. Die Zahlen sprechen Bände. Und Zahlen lügen nicht.

Meine Prognose vom vergangenen Herbst, dass Nico Rosberg nie mehr Weltmeister wird, wenn er es 2014 nicht schafft, könnte sich bewahrheiten. Hamilton kann jederzeit mühelos das Tempo verschärfen, wenn es nötig ist. Gestern ließ er Rosberg zehn Runden lang bei ziemlich genau einer Sekunde Abstand zappeln, aber als es in der 14. Runde zum Boxenstopp ging, fuhr er plötzlich auf 4,2 Sekunden davon. Ähnliches Spiel auch beim zweiten Reifenwechsel.

Chefredakteur Christian Nimmervoll und Nico Rosberg

Chefredakteur Christian Nimmervoll im Gespräch mit Nico Rosberg Zoom

Hamilton fährt momentan in der Form seines Lebens, und Rosberg zerbricht daran. Schon nach dem Qualifying war seine Miene eiskalt, auch wenn er für das offizielle Pole-Foto ganz professionell das Teamplayer-Lächeln aufsetzte. Kein Wunder, dass Nico frustriert war: Weil er eine falsche Hamilton-Zeit im Kopf hatte, glaubte er bei der Zieldurchfahrt, er habe endlich seine erste Pole geholt. Aber Fehlanzeige, wieder um 42 Tausendstel zu langsam. "Come on, guys!"

Vettel der bequemere Gegner für Hamilton?

Und nach dem Rennen wähnte er eine Verschwörung gegen sich. Vorweg: Ich traue Hamilton durchaus zu, dass er Nico ganz bewusst aufgehalten hat. Hamilton ist ein mit allen Wassern gewaschener Vollblut-Egoist - was vielleicht genau der klitzekleine Unterschied ist, warum er zwei WM-Titel hat und Nico noch keinen. Und ein Gegner Sebastian Vettel im weniger konkurrenzfähigen Ferrari ist ihm wahrscheinlich lieber als ein Gegner Nico Rosberg im gleichen Auto.

Aber das tut nichts zur Sache. Wenn Rosberg glaubt, er kann schneller fahren als Hamilton, dann muss er ihn überholen. Teamstrategie hin oder her. Ansonsten wird er aus dem Loch der Nummer 2 bei Mercedes, in dem er in Wahrheit schon viel tiefer drinsteckt, als ihm selbst bewusst ist, nicht mehr rauskommen. Stattdessen kommt seine Hamilton-Kritik in der FIA-PK jetzt für viele als hilflose Jammerei eines Verlierers rüber.


Nico Rosberg nach dem Grand Prix von China

Verleugnung, Wut - und jetzt die Depression?

In der Psychologie der Trauerbewältigung gibt es fünf Stadien: Verleugnung, Wut, Depression, Verhandeln mit dem Schicksal und zuletzt Akzeptanz. Über die Verleugnung ist Nico schon hinweg - er ahnt insgeheim, dass Hamilton (momentan?) besser Autofahren kann als er. Bei der FIA-PK gestern in Schanghai hat er das Stadium der Wut erreicht. Auf das müsste dann eigentlich, wenn es so weitergeht, demnächst die Depression folgen. Halte ich für vorstellbar.

Ich hoffe nur, dass Nico das letzte Stadium der Akzeptanz nie erreichen wird. Denn wenn sich ein Rennfahrer einmal endgültig damit abgefunden hat, dass es einen anderen gibt, der besser ist, ist das der Anfang vom Ende. Rubens Barrichello ist das passiert, Giancarlo Fisichella und auch Mark Webber. Alles tolle Rennfahrer, aber keine Champions. Nico hat noch eine letzte Chance, diesen Prozess abzuwenden. Aber das ist unwahrscheinlich.

Lewis Hamilton, Nico Rosberg

Das Teamplayer-Lächeln fällt Nico Rosberg mit jedem Mal schwerer Zoom

Fest steht: Wenn er gegen Hamilton nicht frühzeitig zum Verlierer gestempelt werden will, muss er in Bahrain gewinnen. Dort, wo das Schicksal vor einem Jahr angefangen hat, sich gegen ihn zu wenden. Im letzten Stint hatte er die besseren Reifen und den Vorteil von DRS, aber er kam trotzdem nicht an Hamilton vorbei. Im Nachhinein betrachtet war das die erste Station auf dem Weg zur Nummer 2 bei Mercedes. Und einer von Hamiltons wichtigsten Siegen. Ein Wendepunkt.

Ihr

Christian Nimmervoll

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