powered by Motorsport.com
  • 18.11.2014 21:32

  • von Gary Anderson (Haymarket)

"Eine Frage, Mister Anderson": Ein Experte erklärt die Technik

Technikexperte Gary Anderson beantwortet Fragen zu einer zweigeteilten Formel 1, zu Bernie Ecclestones Meinung zur Jugend und nennt seine drei Lieblingsautos

(Motorsport-Total.com) - In der Formel 1 wird die Einführung einer Super-GP2 diskutiert. Ist eine per Reglement vorgeschriebene Zweiklassengesellschaft wirklich denkbar? Gary Anderson - früher Chefmechaniker bei McLaren, Chefdesigner bei Jordan, Stewart sowie Jaguar und heute TV-Experte bei der 'BBC' - antwortet auf diese und andere Fragen, die den Formel-1-Fans derzeit am Herzen liegen. Als da wären neben dem Thema Super-GP2 beispielsweise Bernie Ecclestones Äußerungen zur jungen Generation der Formel-1-Fans, die Frage nach Andersons drei Lieblingsautos der Formel-1-Geschichte oder die Frage, wie das Titelduell zwischen Lewis Hamilton und Nico Rosberg ausgeht.

Titel-Bild zur News: Gary Anderson

Gary Anderson kann sich eine Zweiklassengesellschaft vorstellen Zoom

Michele Terminello (Facebook): "Gibt es die Möglichkeit, dass wir in der Formel 1 bald zwei Klassen sehen werden, ähnlich wie es in den 1980er-Jahren mit Turbos und Saugern war? Beispielsweise nach dem Prinzip, dass die großen Teams weiterhin mit den V6-Turbos fahren, die kleinen Teams, die sich diese Antriebsstränge aber nicht leisten können, womöglich wieder auf die V8-Sauger zurückrüsten?"
Gary Anderson: "Ich glaube schon, dass das eine Möglichkeit wäre und ganz ehrlich: Ich kann nichts Falsches daran erkennen. Die Vorgaben müssten aber sehr genau festgeschrieben sein. Würde man die 'Werksautos' weiter mit den aktuellen V6-Turbos mit Hybrid fahren lassen, dann könnte man eine zweite Klasse mit den V8-Saugmotoren und KERS ins Leben rufen. Für diese zweite Klasse sollte das Gewichtslimit 60 Kilogramm niedriger angesetzt werden. Damit wären diese Autos durchschnittlich 1,8 Sekunden pro Runde schneller. Das wäre interessant, denn so wären die Autos der zweiten Klasse in der Lage, auf die Pole-Position zu fahren. Im Rennen aber müssten sie 140 statt 100 Kilogramm Benzin mitführen. Der Gewichtsunterschied würde für spannende Rennen sorgen."

Paul Theakston (Facebook): "Kannst du dir vorstellen, dass Formel-1- und GP2-Autos künftig gemeinsam in ein und demselben Rennen antreten?"
Anderson: "Paul, die GP2 ist ein Sprungbrett in die Formel 1. Die Autos basieren auf komplett anderen technischen Regularien. Vor dem Hintergrund der aktuellen Budgetsituation ist es vor allem wichtig, dass wir nicht überreagieren. Es muss etwas unternommen werden, aber es muss gleichzeitig sichergestellt sein, dass wir nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Die Formel 1 ist seit jeher sehr teuer. Als Eddie Jordan an Weihnachten 1989 entschied, sein Team ab 1991 in der Formel 1 fahren zu lassen, war ihm klar, dass ihm keine einfache Zeit bevorstehen würde. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Teams sind gekommen, Teams sind wieder verschwunden. Es muss gelingen, die Verschwendung in den Griff zu kriegen. Es ist beschämend, was heute an Material an die Strecke gekarrt wird, das für fünf Runden zum Einsatz kommt und dann in die Tonne wandert. Wenn man dieses Thema richtig anpackt, können auf das gesamte Feld hochgerechnet Millionen eingespart werden."

"Beste Motorenformel" nicht Sinn der Sache

Domenici D'Agostino (Facebook): "Kann eine offene Motorenformel in der Formel 1 funktionieren?"
Anderson: "Eigentlich nicht, denn das wäre aus heutiger Sicht einfach zu teuer. Es wird immer die vermeintlich 'beste' Lösung geben. Bis man aber an diesem Punkt angekommen ist, braucht es viel Zeit und Geld. Abgesehen davon sollte es in der Formel 1 ohnehin nicht darum gehen, die 'beste Motorenformel' zu haben. Doch leider erleben wir so etwas gerade. Ich bin mir aber sicher, dass 99,999 Prozent der Zuschauer viel lieber einen engen Wettbewerb der besten Fahrer sehen würden."

"Ich bin mir sicher, dass 99,999 Prozent der Zuschauer viel lieber einen engen Wettbewerb der besten Fahrer sehen würden." Gary Anderson

@OppolockF1B (Twitter): "Wird es den anderen Motorenherstellern im Winter gelingen, den Rückstand auf Mercedes aufzuholen und werden sie es schaffen, mit nur vier Antriebseinheiten pro Auto über die komplette Saison 2015 zu kommen?"
Anderson: "Das wird schwierig, selbst dann, wenn die Homologationsregeln weiter gelockert werden und mehr Veränderungen pro Saison erlaubt sind. Dieses ganze Hin und Her beim Thema Motorenentwicklung kostet eine Menge Zeit. Einmal angenommen, das Einfrieren der Motorenentwicklung würde für die Saison 2015 aufgehoben, dann müsste man das neue Paket schon jetzt auf dem Prüfstand testen, um zu Saisonbeginn konkurrenzfähig sein zu können. Ich glaube nicht, dass es einen Motorenhersteller gibt, der bereit ist, das dafür notwendige finanzielle Risiko auf sich zu nehmen."

"Unterm Strich wollen in Reihen der Teams nur wenige und in Reihen der Motorenhersteller will niemand ernsthaft im Sinne des Sports zusammenarbeiten. Sie alle sehen nur ihre eigenen Interessen und das, was für sie selbst das Beste ist. Über den Winter wird es möglich sein, 48 Prozent des Antriebs zu verändern. Man kann aber davon ausgehen, dass auch Mercedes nachlegen wird. Daher sehe ich es nicht kommen, dass sie so schnell eingeholt werden."

Heizdecken ja, aber...

Dave Fontana (Facebook): "Wie stehst du zum Thema Heizdecken für die Reifen? Sollten sie weiterhin erlaubt sein oder verboten werden?"
Anderson: "Dave, wenn man einmal nur die Kilometer nimmt, die ein Team im Verlauf eines Jahres auf der Rennstrecke abspult und diese durch ein durchschnittliches Budget teilt, dann kommt man auf einen Wert im Bereich von 3.000 Britischen Pfund (umgerechnet rund 3.750 Euro) pro Kilometer. Basierend darauf, dass eine Rennstrecke heute rund fünf Kilometer lang ist, macht das 15.000 Britische Pfund (umgerechnet 18.750 Euro) pro Runde."

Heizdecken für die Reifen des McLaren-Teams

Anderson würde die maximale Anzahl der Heizdecken per Reglement festschreiben Zoom

"Ausgehend davon, dass es ohne Heizdecken eine Runde länger dauert, bis die Reifen auf Temperatur sind, kann man folgende Rechnung aufstellen: Wenn ein Fahrer in jedem Freien Training fünfmal aus der Box geht, macht das 15 Ausfahrten pro Wochenende. Somit gehen schon mal 75.000 Britische Pfund (umgerechnet knapp 94.000 Euro; Anm. d. Red.) nur für das Aufwärmen der Reifen drauf. Es dauert also nicht lange, bis man die Kosten für die Heizdecken erreicht hat."

"Gleichzeitig muss ich aber auch sagen, dass die Teams meiner Meinung nach viel zu viele Heizdecken haben. Wenn ich durch das Fahrerlager laufe, sehe ich, wie jedes Team zeitgleich 20 Reifensätze in Heizdecken verpackt hält. Für das Qualifying stehen jedem Fahrer sechs Reifensätze zur Verfügung. Meiner Ansicht nach wären also sechs Sätze Heizdecken ausreichend. Das sollte das vorgeschriebene Maximum sein."

Junge Generation für die Formel 1 das A und O

@kumagab (Twitter): "Was hältst du von Bernie Ecclestones Aussage, wonach die Formel 1 nicht auf junge Fans angewiesen sei?"
Anderson: "Was Bernie über die in der Formel 1 involvierten Sponsoren und deren Märkte sagt, stimmt. Es gibt nur sehr wenige Leute im Alter von 18 bis 25 Jahren, die sich eine neue Rolex-Uhr oder einen AMG-Mercedes leisten können. Was er dabei aber nicht vergessen sollte: Auch ihm ging es mal nicht so gut. Die Kids, denen es im Moment nicht sonderlich gut geht, könnten durchaus irgendwann äußerst wohlhabende Leute sein."

"Aus meiner Sicht muss in der Formel 1 mehr unternommen werden, um Sponsoren wie Coca-Cola oder McDonald's - Sponsoren der jüngeren Generation - ins Boot zu holen. Wenn es gelingt, die jüngere Generation jetzt anzusprechen, dann stehen die Chancen gut, sie halten zu können. Wenn diese Zeilen hier gelesen werden, sitze ich gerade in Abu Dhabi beim Weltfinale des Wettbewerbs 'Formel 1 in Schulen'. Für dieses Projekt bin ich nun seit fünf Jahren Chefjuror. Die Teams bestehen aus Schülern im Alter zwischen zwölf und 19 Jahren. Es gibt 38 Teams aus 23 Ländern. Insgesamt sind rund 200 Schüler in dieses Projekt involviert. Das sind zwar nicht sehr viele, spiegelt diese Altersgruppe aber doch sehr gut wider. Sie alle haben ein riesiges Interesse an der Formel 1. Der Großteil von ihnen ist sehr clever und wird im späteren Leben erfolgreich sein. Das heißt, sie werden später Geld haben, das sie ausgeben können. Wenn diese Zielgruppe erst einmal wegbricht, fällt es sehr schwer, sie zurückzugewinnen."

"Wenn diese Zielgruppe erst einmal wegbricht, fällt es sehr schwer, sie zurückzugewinnen." Gary Anderson über Formel-1-Fans der Altersgruppe zwölf bis 19 Jahre

Andersons Top 3: ein Brabham, ein Lotus, ein Jordan

Gregory Thornhill (Facebook): "Welches sind deine drei Lieblingsautos der Formel-1-Geschichte und warum?"
Anderson: "Ich kann das nur in Bezug auf die Autos beurteilen, die ich selbst in der Formel 1 erlebt habe. Nummer eins wäre der Brabham BT44. Das war ein richtig schönes Paket - schnell und angenehm, daran zu arbeiten. Genauso wie es eine Freude war, mit Gordon Murray, dem Designer des BT44, zu arbeiten. Ich war damals neu im Geschäft und hatte das Glück, einen der besten Mentoren der Formel 1 zu haben. Aus der Zusammenarbeit mit Gordon zog ich das Selbstvertrauen, später eigene Autos für mein Unternehmen zu konstruieren, als Designer in die Formel 1 zurückzukehren und dort schließlich zum Technikchef aufzusteigen."

"Nummer zwei wäre der Lotus 78. Ich habe nie an diesem Auto gearbeitet, aber es war seiner Zeit meilenweit voraus. Im Grunde wurde mit diesem Auto das Thema Aerodynamik auf den Plan gerufen. Bis heute werden von Designern einzelne Bauteile des Lotus 78 kopiert. So zum Beispiel die kleinen Wirbelerzeuger, die in den Hals des Unterbodens eingearbeitet waren. Heutzutage gibt es rund um ein Formel-1-Auto ganz ähnliche Bauteile, um Wirbel zu erzeugen. Dabei darf man nicht vergessen, dass man am Lotus 78 nie derartige Anbauten zum Messen des Luftstroms sah wie man sie heutzutage im Freien Training am Freitag an den Autos sieht. Um Daten zu sammeln, mussten die Jungs damals ihren Kopf anstrengen."

Mario Andretti

Der Lotus 78 ist laut Anderson bis heute Vorbild für die Designer Zoom

"Nummer drei wäre der Jordan 191. Ich muss schließlich eines meiner eigenen Autos in diese Liste aufnehmen. Es war ein schönes und sehr effizientes Auto. Rein von der Performance her konnte der Bolide natürlich nicht mit denen der großen Teams mithalten, aber es ist uns gelungen, dass diese Teams im Verlauf der Saison 1991 mehr als einmal auf uns aufmerksam wurden. Ich muss mich bei Andrew Green und Mark Smith - meinen beiden Co-Designern des 191 - und bei der gesamten damaligen Jordan-Belegschaft bedanken. Hoffentlich seid ihr alle bis heute genauso stolz auf dieses Auto wie ich es bin."

Hamilton oder Rosberg: Wer wird Weltmeister?

Mike Taylor (E-Mail): "Was glaubst du, wer in Abu Dhabi den WM-Titel gewinnt? Lewis Hamilton ist der Favorit, aber besteht die Gefahr, dass er unbedingt den Rennsieg will und dabei einen Fehler macht?"
Anderson: "Druck kann in uns allen seltsame Dinge auslösen. Manche blühen unter Druck erst richtig auf, andere zerbrechen daran. Ich glaube, Lewis hat gezeigt, dass er mit Druck umgehen kann. Er ist der Favorit und muss ja nur Zweiter werden, um den WM-Titel zu gewinnen. Er ist aber ein Fahrer, der sich nicht gern schlagen lässt. Er wird schon versuchen, das Rennen zu gewinnen."

Nico Rosberg, Lewis Hamilton

Lewis Hamilton ist am Sonntag in Abu Dhabi Favorit auf den WM-Titel, aber... Zoom

"Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Mercedes nicht schnell sein wird. Wenn alles normal läuft, sollten Lewis und Nico in der ersten Reihe stehen. Wenn das einmal geschafft ist, muss Lewis höllisch aufpassen, was die anderen machen. Die ersten Kurven dürften sehr spannend werden. Ich bin mir sicher, dass er den Rückspiegel stets im Auge haben wird, um sicherzustellen, dass er nicht von hinten angegriffen wird. Nico Rosberg hat nichts zu verlieren. Platz zwei in der Weltmeisterschaft ist ihm ohnehin sicher. Er kann es also richtig fliegen lassen, auf die Pole-Position fahren und das Rennen gewinnen. Dann wird es darauf ankommen, wie Lewis abschneidet. Darauf hat Nico natürlich keinen großen Einfluss."