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  • 01.11.2014 02:41

  • von Dieter Rencken & Dominik Sharaf

Den Letzten pickt der Pleitegeier: Klassenkampf in der Formel 1

Warum Toto Wolff Teamsterben natürlich findet, Arbeitsplätze sowie Image akut gefährdet sind und was die "schlechtesten Manager der Welt" auszeichnet

(Motorsport-Total.com) - Die Formel 1 hatte nie den Ruf, ein sozialverträgliches Business zu sein. In das berühmte Haifisch-Becken sprangen viele, nur die wenigsten schwammen wieder an die Oberfläche. Fakt war aber: Es gab immer genügend Waghalsige, die sich auf den Startblock trauten. Das könnte sich mit dem Aus für Marussia und Caterham geändert haben. Wie verhärtet die Fronten zwischen den kleinen und den großen Teams sind, wurde in der Pressekonferenz vor dem US-Grand-Prix in Austin am Freitag deutlich.

Titel-Bild zur News: Start

Wer die rote Laterne mit sich schleppt, ist kurz davor, zusperren zu müssen Zoom

In der silbernen Ecke: Toto Wolff. Der Mercedes-Verantwortliche und erfolgreiche Finanzinvestor ist der Meinung, dass Risiko dazugehört und eine Auslese über den Wettbewerb zwangsläufig stattfindet. Er zieht Parallelen zur Wirtschaft: "Wer morgen eine Airline aufmachen will, für den wird es schwierig, weil Lufthansa einen verschlingt. Wenn man Motorsport betreiben will und ein Team eröffnet, dann muss einem klar sein, dass das die absolute Spitze ist", erklärt Wolff. Kurzum: Die Formel 1 muss eine gewaltige Einstiegshürde präsentieren, um die Königsklasse zu bleiben.

Entsprechend dieser These empfindet der Österreicher nicht ausschließlich Bedauern, wenn er über das Ausscheiden der Hinterbänkler spricht: "Ich sehe das einerseits emotional und andererseits pragmatisch", tastet sich Wolff vor. "Es sind persönliche Tragödien mit Familien, die ihre Häuser abbezahlen und Kinder haben. Aber rational betrachtet kommen und gehen Teams." Die Historie untermauert diese Behauptung: Tyrrell, Brabham, Arrows, Ligier, Larousse und Leyton House, um nur einige Beispiele zu nennen. Und jetzt eben auch Caterham und Marussia.

Wolffs Rezept: Wirtschaftliche Vernunft statt Größenwahn

Haben sich Tony Fernandes und Andrei Tscheglakow einfach nur verhoben? Wollten sie in einer Liga spielen, für die sie nicht das nötige Format hatten? "Als Marussia und Caterham gekommen sind, war das eine unternehmerische Entscheidung", betont Wolff. "Vielleicht wurde die Aufgabe unterschätzt." Gerard Lopez ist in diesem Punkt ganz anderer Meinung. Der Lotus-Besitzer, über dem schon häufig die Pleitegeier gekreist haben sollen, sieht ein strukturelles Problem. Seiner Meinung nach ist es gar nicht mehr möglich, in der Formel 1 als Privatier mitzuspielen.

Der Luxemburger ärgert sich über Wolffs Bemerkung, es gehöre zum sauberen Geschäftsgebaren, nur das auszugeben, was man besitzt. "Ich kann mir vorstellen, was sie für ihre Antriebsstränge und deren Entwicklung gezahlt haben", erklärt Lopez mit Blick auf Caterham und Marussia. "Sie hatten keine Wahl - es ist ja schön, über Ausgabendisziplin zu sprechen, aber gewisse Posten sind fix. Will man minimal konkurrenzfähig bleiben, muss man einen gewissen Betrag ausgeben." Der Lotus-Boss folgert, dass dieser über eine Art Grundsicherung in Umlauf gebracht werden muss.


Fotos: Großer Preis der USA


Es geht um die Verteilung der Formel-1-Einnahmen, die ohne Concorde-Agreement im schwer durchschaubaren Dickicht eines Assoziierungsabkommens erfolgt, die großen und lange in der Königsklasse engagierten Mannschaften aber massiv bevorzugt. "Es ist an der Zeit, die Dinge beim Namen zu nennen", klagt Lopez an. "Die Verteilung der Gelder ist komplett falsch. Wenn Teams mehr dafür bekommen, dass sie nur antreten als andere, die die ganze Saison bestreiten, dann geht etwas total schief." Es sei nötig, endlich zu handeln und nicht nur darüber zu sinnieren.

"Es geht etwas vollkommen schief." Lotus-Boss Gerard Lopez

Schaden Teampleiten der gesamten Formel 1?

Klingt nach Monisha Kaltenborn: "Es mangelt an einer gemeinsamen Basis", hadert die Sauber-Teamchefin, die seit Monaten fehlende Solidarität im Paddock beklagt. Sie wünscht sich leben und leben lassen: "Wir haben ein Recht, an diesem Sport teilzunehmen und vernünftig über die Runden zu kommen - und nicht zu zittern, ob wir es bis zur nächsten Saison schaffen." Schließlich, so argumentiert Kaltenborn, ist Motorsport für Mercedes und Co. nur ein Marketinginstrument, wenn es Gegner gibt. Der Rat der Juristin: "Ein Unternehmer sollte auch ein wenig langfristig denken."

Monisha Kaltenborn

Ernsthaft besorgt: Monisha Kaltenborn sieht die Sponsoren davonlaufen Zoom

Schließlich haben die Teampleiten zur Folge, dass potenzielle Sponsoren und Partner mindestens skeptisch werden. Es ist ebenfalls wirtschaftliche Vernunft, seine Logos nicht auf ein Auto zu kleben, dessen Fotos anschließend Überschriften mit dem Wort "Pleite" zieren. "Wir diskutierten über Finanzen und Insolvenzverfahren", meint Kaltenborn kopfschüttelnd. "Wir schaffen ein schlechtes Bild in der Außenwirkung. Solche Probleme gehören nicht in den Sport, sondern in andere Bereiche der Wirtschaft." Und schon ist wieder von der Budgetobergrenze die Rede.

Lopez fast das Dilemma zusammen. "Die Kostenkontrolle", seufzt der Lotus-Boss, "da finden wir immer Entschuldigungen, warum sie nicht kommen sollte. Sicher gibt es Gründe dagegen, aber auch welche dafür." Wolff fängt lieber mit der ersten Sorte an, schließlich wäre Mercedes ein Verlierer der finanziellen Zwangsjacke. Hinlänglich bekannt ist das Argument, dass eine Kontrolle der Ausgaben kaum möglich ist, weil insbesondere die Werksteam per Konzernstrukturen über Unmengen an Verschleierungskanälen verfügen. Neu ist das Stichwort Arbeitsplätze.


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"Die schlechtesten Manager der Welt"

Eric Boullier, McLaren-Rennleiter und damit baldiges Lieblingskind des Autogiganten Honda, geht auf die Barrikaden: "Wenn man zwei Drittel der Belegschaft der Topteams kürzt, schadet man der Formel 1 noch viel mehr." Seine Gegner argumentieren, dass diese Jobs andernorts neu entstehen, weil bei den kleinen Teams mehr Geld da ist, um Personal aufzustocken. Force-India-Boss Vijay Mallya weiß: "Das passiert doch auch wenn kleine Teams zusperren! Wenn man für ein Team arbeitet, sieht man es so. Wenn man eines besitzt, ganz anders. Man erhält den Scheck oder man stellt ihn aus", meint er schmunzelnd.

Jolyon Palmer

Gerard Lopez glaubt, dass die GP2 wirtschaftlich vernünftiger ist Zoom

Es ändert nichts daran, dass Lopez die Formel 1 für wirtschaftlich unvernünftig hält: "Ein ganzes GP2-Team kostet vier Millionen Euro. Sind wir so viel besser? Müssen wir für sechs Sekunden Unterschied 300 Millionen ausgeben?", wundert sich der Luxemburger. "Es ist lächerlich, zu behaupten, wir bräuchten das, um besser zu sein. Dann wären wir die schlechtesten Manager der Welt. Wenn ich die Erträge der GP2 und der Formel 1 vergleiche, sind wir das wahrscheinlich sogar." Doch wie bringt man jemandem, der mehr als genug Geld hat, das Sparen bei?

Lopez beantwortet die Frage en passant mit der nach effizienter Durchsetzung eines Kostendeckels. "Wir müssen das Budget auf ein Niveau bringen, wo jeder das ausgeben kann, wofür er es will, solange die Entwicklung in einem wirtschaftlich vernünftigen Rahmen erfolgt. Das lässt sich messen: Nicht in Dollar, Euro oder Pfund, aber in Windkanal-Nutzung und Updates." Natürlich lassen sich auch solche Restriktionen umschiffen. Sie würden der Formel 1 aber eine Zukunft geben, die sie derzeit nicht hat. Eine mit Vielfalt, mit Gros und Klein, die sich alle wünschen.


Fotostrecke: "Wir sind die Mafia"

Teamchefs weisen Verantwortung von sich

Schließlich bringen private Rennställe, die ihr Geld ausschließlich auf der Grand-Prix-Strecke verdienen, Stabilität. Die Vergangenheit zeigte, dass die an Marketing interessierten Autohersteller nur dann Lust auf die Formel 1 haben, wenn sie sich ihren Ruf nicht durch Hinterherfahren ruinieren: "Entscheiden große Konzerne wie Toyota oder Honda, dass sie aufhören wollen, dann hören sie einfach auf. Es braucht eine gute Mischung. Man muss das Spielfeld so weit ebnen, wie es sich nur ebnen lässt", plädiert Mallya. Dazu ist es nötig, die Verbliebenen zu stabilisieren.

Paddock in Spielberg

Müssen bald weitere Teams aus dem Paddock ausziehen, weil das Geld ausgeht Zoom

"Die übrigen neun Teams sind Herz und Seele der Formel 1", erklärt Wolff in dem Wissen, dass weitere Mannschaften taumeln. Boullier sieht es aber nicht als seine Aufgabe an, ihnen die helfende Hand zu reichen: "Jeder will jeden schlagen", pocht der Franzose auf das Haifisch-Becken. "Wir sind Konkurrenten. Ob mit einer Wasserflasche oder einem Formel-1-Team, wir wollen besser sein als die anderen, mit allen Mitteln. Hat jemand die Fußballspieler wegen des 'Financial Fairplay' in der Premiere League gefragt? Nein. Man muss Clubs, Besitzer oder Organisatoren ansprechen."

Bei Lopez und Mallya stößt er auf taube Ohren. Sie verstehen die Formel 1 nicht mehr, wenn es um Unsummen für Hybridmotoren geht, die den Großen nicht weiterhelfen. "Das ist nicht Sparen, sondern das Geld zum Fenster Rauswerfen", hadert der Lotus-Boss und beschreibt einen Prozess der Selbstzerfleischung: "Wenn wir jetzt auch noch die Homologation aufweichen, zwingen wir alle, wieder zu entwickeln - am Ende hat das Thema Kosten fatale Auswirkungen auf den Sport. Wir sagen das eine und machen das andere." Mallya wünscht sich, dass wieder mehr miteinander als übereinander gesprochen wird: "Es ist keine Atomwissenschaft, Leute an einen Tisch zu bringen." Offenbar schon.

"Es ist keine Atomwissenschaft, Leute an einen Tisch zu bringen." Force-India-Boss Vijay Mallya