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  • 22.10.2014 17:06

  • von Gary Anderson (Haymarket)

"Eine Frage, Mister Anderson": Ein Experte erklärt die Technik

Bei Technikexperte Gary Anderson dreht sich heute alles um das Thema Jules Bianchi und die Folgen seines Unfalls: Braucht es beispielsweise Cockpit-Kuppeln?

(Motorsport-Total.com) - Die Formel 1 ist 2014 technischer denn je. Aus diesem Grund antwortet hier Gary Anderson - früher Chefmechaniker bei McLaren, Designer bei Jordan, Stewart sowie Jaguar und heute TV-Experte der 'BBC' - auf Technikfragen und lässt die Leser an seinem enormen Formel-1-Wissen teilhaben. Heute dreht sich bei ihm alles um das Thema Jules Bianchi und wie man die Formel 1 nach seinem Unfall sicherer machen kann.

Titel-Bild zur News: Gary Anderson

Gary Anderson fordert mehr Sicherheit für die Köpfe der Fahrer

Will Tyson (Twitter): "Viele Leute sehen die Vorteile von geschlossenen Cockpits. Wie ist deine Meinung dazu?"
Gary Anderson: "Ich würde die Frage lieber ein wenig verändern und dir meine generelle Ansicht über den Schutz des Kopfes geben. Zuallererst ist es wichtig, die Seitenansicht eines aktuellen Formel-1-Autos mit einem frühen 1980er, einem 1990er und einem 2000er Auto zu vergleichen. Das zeigt den Fortschritt, der bereits gemacht wurde. Allerdings sollten Verbesserungen in Sachen Sicherheit niemals aufhören."

"Um deine Frage zu beantworten: Ja, ich glaube, dass der Schutz des Kopfes verbessert werden muss. Wenn ich darauf schauen müsste, dann würde ich wohl die Windabweiser noch höher ziehen, sodass die Front und die Seiten dieselbe Höhe wie die Nackenstütze neben dem Kopf des Fahrers besitzen. Die Formel 1 hätte immer noch ein offenes Cockpit, auch wenn die Öffnung viel kleiner wäre. Aber der Fahrer würde immer noch herauskommen, ohne etwas abnehmen zu müssen."

"Die Minimumöffnung des Cockpits im Chassis wird von der FIA vorgegeben. Wenn man also ein wenig an den Zahlen herumspielen würde, dann könnte der Windabweiser eine von der FIA vorgegebene Komponente sein, die alle Teams nutzen müssen."

Cockpit-Kuppel

Sind geschlossene Cockpits wirklich der Weisheit letzter Schluss? Zoom

"Diese könnte sogar von einem Fachunternehmen hergestellt werden. Auf diese Weise sollte es die Kosten auf einem realistischen Niveau halten, und man könnte vielleicht eine Firma finden, die die Formel 1 als einen angemessenen Markt sehen würde, um ihr Produkt in einem fachgerechten Umfeld zu präsentieren. Der Rest der Antwort passt zur nächsten Frage."

@welshracer (Twitter): "Hätte ein geschlossenes Cockpit das Risiko bei dem Unfall von Jules Bianchi minimiert?"
Anderson: "Ich habe den Unfall im Detail nicht genügend gesehen, um darüber in aller Tiefe sprechen zu können, aber alles, was seinen Kopf oder das Auto auch nur ein bisschen abgelenkt hätte, würde dabei helfen, die G-Kräfte auf sein Gehirn zu reduzieren."

"Bei jedem Unfall können Zentimeter den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen. Es wäre sehr schwierig - wenn nicht unmöglich - den Unterschied zu simulieren, den ein verbesserter Windabweiser gemacht hätte. Das heißt nicht, dass es nicht einen Versuch wert wäre. Mein erster Schritt wäre, Dinge wie Räder oder Komponenten des Autos, wie die Feder, die Felipe Massa in Ungarn 2009 getroffen hat, besser abzuleiten."

Disqualifikation bei Nichtbeachtung der Flaggen?

@mrmarkf1 (Twitter): "Vor 1995 schienen die Fahrer sehr angreifbar und offen zu sein, aber zu dieser Zeit schien das okay zu sein. Sticht jetzt irgendetwas als Problem heraus, das zuvor vielleicht nicht offensichtlich war?"
Anderson: "Die aktuelle Technologie wird immer als Ingenieurskunst gesehen, aber ich bin sicher: Wenn man in 20 Jahren zurückblickt, wird man an den heutigen Autos Dinge sehen, die einen erschaudern lassen. Das Problem ist nicht die Geschwindigkeit, es ist das abrupte Abbremsen. Alles, was die Verzögerung des Autos bei einem Unfall ein wenig sanfter macht, wird immer dabei helfen, das Risiko für den Fahrer zu verringern."

"Ich persönlich glaube nicht wirklich an die tiefen Nasen in diesem Jahr. Ich glaube, dass die Crashstrukturen an Nase und Heck im Zentrum der Räder sein sollten. Das würde am ehesten verhindern, dass ein Auto über ein anderes drüberfliegt oder sich unter ein anderes Auto oder einen Reifenstapel schiebt."


Fotostrecke: Unfall von Jules Bianchi

@goonerf1 (Twitter): "Tempozonen: ja oder nein?"
Anderson: "Ja, ja, ja. Wie kann man das erreichen? Wenn ich etwas zu sagen hätte, hätte es schon in Russland Veränderungen gegeben. Zuallererst hätte ich es zur Pflicht gemacht, dass es vor einem Unfall zwei Gelbzonen anstatt nur einer gibt. Nach einem Unfallpunkt hätte es noch einen weiteren Gelbbereich vor der grünen Flagge gegeben, anstatt sie gleich zu zeigen. Dadurch wäre der Unfallbereich länger, aber es würde den Streckenposten ermöglichen, ihren Job zu erledigen, ohne ständig über die Schulter schauen zu müssen."

"Zweitens hätte ich den unmittelbaren Einsatz des Boxengassenlimiters in einer Zone mit gelber Flagge eingeführt. Wenn ein Fahrer in den ersten Gelbbereich fährt, drückt er den Knopf auf dem Lenkrad, wodurch seine Höchstgeschwindigkeit auf ein sicheres Niveau reduziert wird - ich würde sagen 100 km/h. Wenn er die grüne Flagge erreicht, schaltet er den Limiter aus und fährt weiter. Dadurch gäbe es keinen Druck, das Extrabisschen schneller zu fahren."

gelbe Flagge Hockenheimring

Gary Anderson fordert bei Gelbphasen eine strikte Einhaltung der Regeln Zoom

"Als letzter 'Anreiz', die Regeländerungen auch einzuhalten, würde ich jeden Fahrer sofort von diesem und dem nächsten Event disqualifizieren, wenn die Daten nach dem Rennen zeigen, dass er sich in der Gelbzone nicht der Geschwindigkeit angepasst hat. Durchfahrtsstrafen gäbe es bei mir nicht."

"Formel 1 hat häufig nicht reagiert"

Gary Deservham (Email): "Nach dem Unfall wurde viel darüber gesprochen, dass man bei den Änderungen keinen Schnellschuss abfeuern sollte. Kannst du dich an einen Schnellschuss erinnern, der nicht hätte eingeführt werden sollen?"
Anderson: "Aus meiner Sicht hat die Formel 1 viel zu häufig nicht reagiert anstatt zu überreagieren. In der Vergangenheit wurden Änderungen eingeführt, die einfach nicht der richtige Weg waren, ein vorhandenes Problem zu lösen. Aber solange sie identifiziert und so schnell wie möglich richtiggestellt werden, wird immer etwas Besseres herauskommen."

"Wir lernen jeden Tag etwas Neues, und die Formel 1 ist der Vorreiter in Sachen Technologie - oder sollte es sein. Ich glaube nicht, dass eine Gruppe sehr intelligenter Ingenieure, die das Formel-1-Starterfeld ausmachen, jemals Schnellschüsse abfeuern sollte. Allerdings sollten sie auf das Gelernte und Gesehene reagieren und ruhige und kalkulierte Veränderungen vornehmen, um die Probleme anzugehen."

"Das ist letzten Endes das, was die Teams tun - solange es um eine Richtung bei der Autoentwicklung oder Probleme im eigenen Team geht. Wenn sie allerdings zusammen in einer Gruppe sind - und ich war Teil dieser Gruppe - dann erscheint es fast unmöglich, etwas zu erreichen."


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Die Krux der Ingenieure: Performance vor Sicherheit

Mark Lovas (Twitter): "Was war die wichtigste Verbesserung der Fahrersicherheit während deiner Zeit in der Formel 1?"
Anderson: "Ohne Zweifel die Verbesserung beim Feuerschutz. Das kommt von den Entwicklungen beim Benzintank, der Chassisstruktur um den Tank und dem Rennoverall. Alles hat sich unglaublich weiterentwickelt. Ich war 1973 in Zandvoort, als Roger Williamson sein Leben verlor. Feuer ist die Sache, die jeder Formel-1-Fahrer zu dieser Zeit - und auch später noch - gefürchtet hat. Und das zu Recht."

Ben Church (Email): "Werden Ingenieure immer einen Weg finden, Sicherheitsänderungen aus Performancegründen zu umgehen? Du und Adrian Newey habt 1996 Autos produziert, die für die damaligen Cockpitregeln weniger sicher aussahen als beispielsweise Benetton oder Ferrari."
Anderson: "Darum werden Formel-1-Ingenieure angeheuert: um Schlupflöcher oder Grauzonen zu finden. Der Wettbewerb ist hart, und Adrian Newey und ich kamen mit einer Kopfstützeninterpretetion, die sich von allen anderen enorm unterschieden hat."

"Ich erinnere mich daran, dass ich in einem Meeting der Technischen Arbeitsgruppe saß, und als die Regeländerung diskutiert wurde, habe ich meine Hände gerieben und sofort daran gedacht, was wir tun können. Ich denke, dass es viel besser als das Design von Ferrari war. Kannst du dir bei dem Design vorstellen, dass eine Feder auf deinen Kopf zukommt, wie bei Massa in Ungarn? Du hättest keine Chance, deinen Kopf aus der Schussbahn zu bewegen."

"Ich erinnere mich, dass Eddie Irvine und Michael Schumacher ihre Köpfe an die Seite halten mussten, um eine bessere Performance aus dem Luftansaugkasten zu bekommen. War das sicherer als unser Design bei Jordan?"

Michael Schumacher

Die Ferrari-Cockpitlösung 1996 war anscheinend nicht das Gelbe vom Ei Zoom

"Ross Brawn hat sich in Australien lautstark über unser Design geäußert, und ich glaube, dass er eine Linie überschritten hat, als er der britischen Presse sagte, dass ich Martin Brundles Leben aufs Spiel setzen würde. Eigentlich war er aber nur angepisst, dass Jordan - ein Nobody-Team - eine bessere Lösung gefunden hat. Man muss nur auf das folgende Jahr schauen: Wer hat wen kopiert? Ich sagte damals zu ihm: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen."

Ellie Bartley (Twitter): "Glaubst du, dass Max Verstappen seine Entscheidung, mit 17 in die Formel 1 zu kommen, nach dem Unfall von Bianchi bereut?"
Anderson: "Nein. Er glaubt an sich, und sein Talent wird entscheiden, ob er es in der Formel 1 schafft - nicht sein Alter. Er ist seit seinem sechsten Lebensjahr auf Wettbewerbsniveau gefahren. Das sind elf Jahre Erfahrung. Takuma Sato hat nicht mit dem Fahren angefangen, bevor er 20 war. Als er in die Formel 1 kam, hatte er daher weniger Erfahrung als Max."

"Wenn man sich Bianchis Unfall anschaut, dann hat eine Reihe unglücklicher Umstände zu seiner Verletzung geführt. Max und sein Umfeld werden das wissen. Mit all den normalen Sicherheitsvorkehrungen hatte Adrian Sutil in dieser Kurve einen Unfall, ist in die Bande eingeschlagen und stieg komplett unverletzt aus dem Auto. Eine Runde später hatte Jules den Unfall und erlitt schwerwiegende Verletzungen."

"Der Unterschied zwischen diesen beiden Unfällen lag an dem Einsatz eines komplett ungeschützten Bergungsfahrzeugs an der Unfallstelle. Der Schutz durch Crash-Barrieren hat sich in den vergangenen 30 Jahren enorm verbessert. Die Traktoren sind hingegen gleich geblieben. In Wirklichkeit kämpft Jules Bianchi darum um sein Leben."

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