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  • 26.08.2014 19:19

  • von Dominik Sharaf

Realität minus Angstfaktor, plus Suchtfaktor

Selbstversuch im Formel-1-Simulator: Welchen Reiz die Welt von Bits und Bytes ausübt und welches entscheidende Puzzleteil jede Software überfordert

(Motorsport-Total.com) - Für die einen ist es "nur ein bisschen Playstation", für die anderen das täglich Brot auf dem Weg zu Grand-Prix-Siegen: Die moderne Formel 1 könnte mit allen ihren Testbeschränkungen und Computerspielereien kaum noch ohne Simulatoren. Deshalb investieren die Teams viel Geld und Personal, wenn es um eine möglichst detailgetreue Abbildung von Strecken, Fahrzeugbedienung, Handling und haptischem Feedback in der virtuellen Welt geht. Das Ergebnis ist verblüffend - und macht süchtig.

Titel-Bild zur News: Ferrari-Simulator

Motorsport-Total-Redakteur Dominik Sharaf im Simulator: Es macht süchtig Zoom

In Spa-Francorchamps, ausgerechnet am Fuße der legendären Eau Rouge, baute Ferrari-Partner Shell eine mit dem großen Vorbild in Maranello weitgehend identische Version des Ferrari-Formel-1-Simulators auf. Zwar stand der nicht auf Stelzen, um Autobewegungen möglichst umfangreich und intensiv darzustellen, verfügte aber über den gleichen Mechanismus zur Abbildung der G-Kräfte und ein originales Monocoque, wie es Fernando Alonso und Kimi Räikkönen in der Saison 2014 verwenden.

Auch das Herzstück war erste Wahl: die Software mit allen Hybridtechnik-Clous von ERS bis MGU-H, von Batteriespeicher bis MGU-K - und natürlich DRS. Um die zu entwickeln, holte sich Ferrari mit Anton Stipinovich einen Mann ins Haus, der schon für McLaren und Red Bull an Formel-1-Autos tüftelte. Wo sonst die Champions der Scuderia zwei Stunden täglich am Setup feilen, darf ich am Rande des Belgien-Grand-Prix "ins Auto" und über das Bits-und-Bytes-Abbild der Ardennen-Achterbahn fegen.

Gretchenfrage: Eau Rouge mit Vollgas oder doch mit Lupfen? Stopp. So einfach geht Königsklasse nicht. Die erste Hürde ist das Einsteigen. Mit 1,87 Metern bin ich kein Riese, aber für einen Formelsport-Jockey scheinbar schon zu groß. Auch mit der bis zum Anschlag nach hinten verstellten Pedalerie kratzt das Lenkrad noch immer an meinen Oberschenkeln, von den Händen ganz zu schweigen. Aber es muss gehen - auch wenn der Einschlagwinkel in La Source eine hakelige Angelegenheit zu werden verspricht.

Die Grenzen der Simulation

In der Box heißt es dann Gang rein und los. Aus den Lautsprechern an der Airbox dröhnt der Motorensound, das Lenkrad vibriert im V6-Rhytmus und es geht mit Boxengassen-Begrenzer hin zur grünen Ampel. Vollgas - im dritten Gang. "Wer zum ersten Mal fährt, kann das Drehmoment im ersten und zweiten Gang nicht handeln", hatte mich Anton noch gewarnt. Den Berg hinunter zu Eau Rouge haue ich mich an den Schaltwippen durch die Gänge, der 1,6-Liter-Turbo dreht nach oben wie die sprichwörtliche Orgel.

Und vom Gas: Bei der ersten Durchfahrt geht die Mutter aller Kurven nicht ohne Lupfen. Die Linie passt einigermaßen und ich halte mit der Nackenmuskulatur dagegen, das Tempo leider nicht, wie ich ausgangs Raidillon auf dem Display sehe. Dann wieder Klack-Klack-Klack-Klack auf der Kemmel-Geraden im Schweinsgalopp durch das Getriebe und vor Les Combes voll auf die Bremse. Alles fühlt sich teuflisch echt an, wenn auch durch die verkürzten Bewegungen des portablen Simulators etwas gedämpfter. Mir wird aber klar, das die Simulation Grenzen hat.

Telemetrieauswertung

Am Ende gibt es eine haargenaue Telemetrieauswertung - ein A4-Blatt für jede Runde Zoom

Ich spüre jeden Kerb, jede Bodenwelle, jedes kleine bisschen Druck zu viel auf dem Gaspedal und das ausbrechende Heck. Aber wenn ich in meinem Privatwagen sitze und mit Normaltempo über die Bundesstraße fahre, fühlt es sich genauso an. Das ist nicht die Intensität von Formel 1. Beim Suchen des Bremspunktes wird klar: Wenn man weiß, dass ein Einschlag in den Reifenstapeln nur eine schicke Grafikanimation und ein bisschen Rumpeln ist, gibt es nicht den Nervenkitzel. "Kann ich noch Gas geben? Geht es noch bisschen später?" Es geht immer. Es gibt nicht die Angst: Was ist, wenn das Bremspedal durchfällt? Ein Reifen platzt? Da ist es egal, wie stark sich der Simulator bewegt.

Im Konzentrationstunnel: Das macht süchtig!

Für mich geht es nach der Aufwärmphase auf die gezeitete Runde. Nach unfreiwilliger Regenlinie in La Source wieder die Eau Rouge. Leicht gelupft, Vollgas ist nicht drin. Immerhin habe ich mehr Gefühl für die Bremse entwickelt, kann das Auto beim Übersteuern mit Gegenlenken abfangen. Ich vergesse mehr und mehr, dass ich in einem "nackten", verkabelten Monocoque sitze, weil volle Konzentration gefragt ist. Es gibt keine Sekunde, in der nicht irgendein Knöpfen gedrückt, ein Schalter gedreht, ein Hebel gezogen oder ein Pedal betätigt werden will.

Ferrari-Simulator

So einfach geht Königsklasse nicht: Anton Stipinovich erklärt, wie es funktioniert Zoom

Ich ahne schon beim Fahren und ohne Blick auf die Rundenzeit, wie viel Luft nach oben es noch gibt. "Für die Profis muss das Schneckentempo sein", denke ich mir. Deshalb erhöhe ich das Risiko. Blanchimont geht schon voll, dann noch die Bus-Stop-Schikane. Gut erwischt, dann wieder so viel Gas wie möglich, um auf dem Weg zum Zielstrich wenig Zeit zu verlieren - und weg ist das Heck! Von Asphalt bis Himmel ist alles virtuell, aber der Ärger über den Patzer ist hundertprozentig real. Nach 2:05,969 Minuten geht es über den Zielstrich. Und ich will nochmal Formel 1 fahren. Pardon, Simulator!