• 16.04.2014 16:38

  • von Dominik Sharaf

Die große China-Vorschau: Wer zähmt den silbernen Drachen?

In Schanghai dreht sich alles um Motorpower, Hybridaufladung, Reifenmanagement und die Frage: Wer ist die Nummer zwei hinter Klassenprimus Mercedes?

(Motorsport-Total.com) - Kaum ein Land zieht das Interesse der Automobil-Industrie so auf sich wie China. Die boomende Wirtschaft im Reich der Mitte hat den bevölkerungsreichste Staat der Erde zu einem begehrten Absatzmarkt für Modelle aller Segmente gemacht - klar, dass die Marketingmaschine Formel 1 (Formel-1-Liveticker) davor nicht Halt macht. Seit 2004 zählt der International Circuit vor den Toren Schanghais zum Kalender, geliebt wird die Königsklasse von den Chinesen aber (noch) nicht.

Titel-Bild zur News: Michael Schumacher

In China ist viele größer - um nicht zu sagen: völlig übertrieben

Obwohl 'Motorsport-Total.com'-Kolumnist Bernd Mayländer eine Steigerung des Interesses an der Formel 1 wahrgenommen hat, bleibt der Zuschauerzuspruch seit geraumer Zeit hinter den Erwartungen zurück. Auch die Stimmung auf den Tribünen und in einem Fahrerlager, in dem sich aufgrund seiner Größe eigentlich nur mit der Hilfe eines Fahrrads oder Motorrollers sinnvoll arbeiten lässt, ließ zu wünschen übrig. "Man weiß nie so recht, was man erwarten darf - nur einen gigantischen Stau auf dem Weg zur Strecke", meint Lotus-Pilot Romain Grosjean schmunzelnd.

Schließlich ist in der Peripherie der 23-Millionen-Metropole nicht nur der Verkehr gigantisch. Der allgegenwärtige Smog macht den Menschen zu schaffen, auf der in einem Industriegebiet gelegenen Anlage ist die Belastung besonders hoch - von den politischen Restriktionen eines sozialistischen Staates mit kapitalistischen Gepflogenheiten ganz zu schweigen. Das Wetter ist in China stets für eine Überraschung gut. Obwohl am Wochenende von Freitag bis Sonntag Temperaturen von bis zu 23 Grad Celsius in der Spitze und 14 Grad in der Nacht erwartet werden, besteht während des Qualifyings ein Regenrisiko. Sonst sollte es nach Meinung der Meteorologen trocken bleiben.

Typisch Schanghai: die "Schneckenkurve"

Die von Hermann Tilke entworfene, 5.451 Kilometer lange Bahn lieferte in der Vergangenheit auch ohne Niederschlag spannende Rennen. Der Rundenrekord datiert aus dem Jahre 2004 und gehört Michael Schumacher, der im Ferrari in 1:32.238 Minuten benötigte. Zuletzt waren die Autos mehr als zwei Sekunden langsamer und es ist zu erwarten, dass sich die Zeiten mit Beginn der Turbo- und Hybridära wegen des reduzierten Abtriebs weiter erhöhen. Bei den Höchstgeschwindigkeiten darf man gespannt sein, zu was die neuen Antriebsstränge zu leisten in der Lage sind. 320 Kilometer pro Stunde scheinen realistisch.

Charakteristisch für den International Circuit sind die anspruchsvolle "Schneckenkurve", ein immer enger werdendes 270-Grad-Rondell unmittelbar nach der Start- und Zielgeraden, sowie die lange Gegengerade, die mit knapp 1,3 Kilometern die längste im gesamten Formel-1-Kalender ist. Hier verbirgt sich die beste Überholmöglichkeit, schließlich wird am Ende für eine Haarnadelkurve hart abgebremst. Öfters hat es dabei schon gekracht. Überholen ist in Schanghai offenbar einfacher als andernorts, schließlich landeten nur fünf von elf Siegern ihren Erfolg von der Pole-Position aus.


Fotostrecke: Triumphe & Tragödien in China

Abgesehen von den zwei längeren Geraden gibt es für die Piloten wenig Möglichkeiten, sich zu erholen. Ein Mix aus langsamen sowie schnellen Kurven ist in kurzer Abfolge zu meistern und lädt teilweise zu Fehlern ein. Nicht nur das macht die Bahn zu einer der schwierigeren im Kalender, schließlich haben auch die Motorentechniker ordentlich Arbeit. Auf 20 Prozent der Strecke fahren die Autos unter Vollast, an den kritischen Stellen sind die Systeme zur Energierückgewinnung besonders gefragt. Wer durch Hitze und Kinetik nicht genug "recycelt", fällt ins Turboloch.

"Sicher ist nur der Stau auf dem Weg zur Strecke." Romain Grosjean

Reifen eher ein Faktor als der Sprit

Hinzu kommen Taktikspielchen. Weil die Aufladung der Speicher relativ lange dauert, wird es nicht möglich sein, jede Runde unter Zuhilfenahme der kompletten Hybrid-Zusatzenergie zu absolvieren. Es gilt, mit der Power zu haushalten und sie im richtigen Moment zu nutzen. Neben dem neuen Farbdisplay auf dem "Playstation-Lenkrad" der Generation 2014, sollten die Piloten auch auf die Pneus sein Auge werfen. Zwar ist der Asphalt sehr glatt und die niedrigeren Temperaturen sind eine Erleichterung, trotzdem gilt der Kurs als anspruchsvoll für die Pneus.

Nico Rosberg, Norbert Haug

Nico Rosberg und Norbert Haug: In Schanghai schlug eine historische Stunde Zoom

Allen voran auf das linke Vorderrad wirken enorme Kräfte, sodass der Schlüssel zu einer ökonomischen Fahrweise ausnahmsweise nicht das Achten auf die Hinterreifen ist. Pirelli liefert die Mischungen Soft und Medium. Die Italiener wählen damit die mittleren Versionen aus ihrem Programm, eine Dreistoppstrategie bei der Mehrheit des Feldes ist wahrscheinlich. Der Spritverbrauch dürfte den Teams weniger Sorge bereiten, schließlich macht die Action in China die Aggregate nicht besonders durstig.

Nur 55 Prozent der Bahn werden mit Vollgas absolviert, Melbourne oder Bahrain waren eine deutlich härtere Prüfung. Eher kommt das Safety-Car ins Spiel. Bei den bisherigen Ausgaben des China-Grand-Prix rückte das Führungsfahrzeug in 43 Prozent der Fälle aus. Auch wenn die gelben Flaggen von den Streckenposten nicht geschwenkt werden, wird wohl ein Mercedes in Führung liegen. Zu überlegen präsentierten Lewis Hamilton, der in Schanghai 2008 und 2011 jeweils im McLaren gewann, und der 2012er China-Sieger Nico Rosberg zuletzt.


Fotos: Testfahrten in Sachir


Hamilton oder Rosberg? Egal, Hauptsache Mercedes!

Auch an der Stätte des ersten Silberpfeil-Triumphs der zweiten Werksteam-Ära stellt sich eigentlich nur die Frage: Welcher der beiden Kumpels, deren Verhältnis zuletzt merklich abgekühlt ist, hat die Nase vorne? Nachdem Hamilton in Australien von einem technischen Defekt gebremst wurde, präsentierte er sich in Malaysia und insbesondere in Bahrain trotz schlechterer Reifen fahrerisch in besserer Form als der Deutsche. Rosbergs Elf-Punkte-Führung in der WM-Tabelle könnte weiter schrumpfen, schließlich will sich Mercedes laut Co-Teamchef Paddy Lowe nicht per Stallorder einmischen.

Sebastian Vettel und Red Bull werden auf der Motorenstrecke Schanghai erleben, wie groß ihre oft gelobten Fortschritte mit dem Renault-Aggregat wirklich gewesen sind. Der Deutsche kehrt an den Ort zurück, der ihm in der Vergangenheit Glücksmomente bescherte. Als Toro-Rosso-Junior demonstrierte er 2007 im Regen mit einem vierten Platz sein Talent, zwei Jahre später siegte er erstmals im Red Bull. Doch die Vorzeichen stehen nicht gut: In Bahrain war der RB10 auf der Geraden 15 Kilometer pro Stunde langsamer als die Silberpfeile, angeblich fehlen 80 PS.

"Allein auf Start-Ziel haben wir rund eine Sekunde verloren", erklärt Red-Bull-Motorsportberater Helmut Marko im Gespräch mit 'Sport Bild'. Umgerechnet auf die lange Gegengerade in China sind 1,3 Sekunden zu befürchten, was in den Kurven kaum noch zu kompensieren ist. Für das Überholen ist das Manko ohnehin Gift. So lässt sich aus Sicht der Österreicher nur darauf hoffen, dass Daniel Ricciardo das Scheitern der Berufung in der Benzinaffäre gut verdaut hat und der junge Australier seinem etablierten Teamkollege weiter so viel Druck macht wie bisher.

Benvenuto, Marco Mattiacci!

Mit flauem Gefühl im Magen dürfte es für Ferrari nach China gehen, schließlich waren die Roten in Bahrain in allen Belangen unterlegen und durften sich am Ende glücklich schätzen, dass es in der Wüste überhaupt Punkte zu ernten gab. Spritverbrauch und Reifenverschleiß verursachen Sorgenfalten - und in China zeigte nicht zuletzt Kimi Räikkönen 2012 (damals noch im Lotus), wie schnell nachlassende Gummis für massiven Positionsverlust sorgen. Da hilft es wenig, dass mit dem Finnen und Fernando Alonso zwei frühere Schanghai-Sieger am Volant drehen.

Sebastian Vettel

Sebastian Vettel hatte in China gleich zwei ganz große Glückmomente Zoom

Bei der Scuderia wird außerdem das Debüt des neuen Teamchefs Marco Mattiacci mit Spannung erwartet, Wunder wird der 43-Jährige aber auf Anhieb nicht vollbringen. Wahrscheinlich bleibt Ferrari sogar hinter den Mercedes-Kunden zurück, die sich derzeit mit Red Bull um den dritten Platz hinter dem Stuttgarter Werksteam streiten. Im Dreikampf zwischen Force India, Williams und McLaren ist allen voran das hochgelobte Team aus Woking unter Zugzwang, nachdem Ausfälle die Truppe nach vielversprechendem Saisonstart zurückgeworfen hatten.

Force India im Aufwind

Für Jenson Button und Kevin Magnussen sprechen Updates des MP4-29, aber nicht mehr die noch 2013 so gelobten Blitz-Boxenstopps. Denn Force India verfügt nicht nur über zwei Piloten in starker Form, sondern auch die Boxencrew der Vijay-Mallya-Truppe arbeitet tadellos. In Bahrain war kein Team bei der Abfertigung im Durchschnitt so schnell. Ist Nico Hülkenberg also endlich reif für das erste Podium seiner Formel-1-Karriere, nachdem Sergio Perez in Bahrain vorgelegt hat?

Sergio Perez

Ist Force India auch weiterhin die zweite Kraft in der Formel 1? Zoom

Williams könnte aus einer unzulänglichen Vorbereitung in den Freien Trainings gelernt haben und den nächsten Angriff auf das Podium starten - vorausgesetzt, der kritische Reifenverschleiß spielt mit und Valtteri Bottas spart sich seine Fahrfehler. Sauber-Pilot Adrian Sutil startet als vierter Deutscher mit den geringsten Aussichten auf Punkte in den China-Grand-Prix. Zuletzt ging es für den Gräfelfinger eher darum, einen "unfahrbaren" Boliden überhaupt auf Kurs zu halten als ihn zu Zählbarem zu steuern.