1998: Ein Australien-Grand-Prix für die Ewigkeit

Das Melbourne-Rennen, das David Coulthard gebrochen und Mika Häkkinen vielleicht zum Champion gemacht hat: Die McLaren-Stallorder-Affäre von 1998

(Motorsport-Total.com) - 1998 ist (ähnlich wie auch 2014) vieles radikal neu in der Formel 1: 180 statt 200 Zentimeter Spurbreite der Autos, schmale Rillenreifen statt breite Slicks. "Vielleicht bin ich der letzte echte Champion", ätzt Titelverteidiger Jacques Villeneuve nach dem legendären WM-Finale von Jerez 1997, denn die neue Formel 1 entspricht nicht mehr seiner Vorstellung von einer bulligen und kraftvollen Königsklasse des Motorsports.

Titel-Bild zur News: Mika Häkkinen, David Coulthard, Melbourne 1998

Die entscheidende Szene 1998: David Coulthard macht Platz für Mika Häkkinen Zoom

Was das Kräfteverhältnis angeht, deutet sich bereits bei den Wintertests an: McLaren-Mercedes, inzwischen bereits im zweiten Jahr mit West-Silberpfeil-Lackierung, scheint den Ton anzugeben. Und nachdem Villeneuve 1997 im Williams um 2,103 Sekunden schneller gewesen ist als der beste Nicht-Williams-Qualifyer, brummen Mika Häkkinen und David Coulthard im McLaren MP4-13 ihrem ersten Verfolger Michael Schumacher auf Ferrari 1998 schlappe acht Zehntelsekunden aufs Auge.

Für diese dominante Vorstellung müssen sich die Silberpfeile noch nicht einmal groß strecken. "Das Team war wegen der Zuverlässigkeit besorgt", erinnert sich Coulthard in seiner Autobiografie 'It Is What It Is' (erschienen 2007 im Verlag Orion Books). "Wir hatten während der Wintertests schnelle Rundenzeiten geschafft, aber noch keine Grand-Prix-Distanz." Also ist es naheliegend, eine Absprache zu treffen: Wer auf Pole steht, gewinnt, beschließt Teamchef Ron Dennis.

Häkkinen stellt im Qualifying die Weichen

Die Fahrer ändern die Absprache dahingehend, dass derjenige vorne bleiben soll, der nach der ersten Kurve in Führung liegt. Häkkinen hat das Qualifying um 0,043 Sekunden für sich entschieden, Coulthard gilt aber als der bessere Starter. Nur: Das Starten ist 1998 mit den Rillenreifen (weniger Grip) eine ganz andere Kunst als noch 1997 auf Slicks, und obendrein irritiert den Briten eine leichte Rauchentwicklung an seinem Auto. Also bleibt der "Fliegende Finne" voran.

Was weiter geschieht, erzählt Coulthard am besten in seinen eigenen Worten: "Mika machte einen Fehler. Ich glaube, sein Gehör war seit seinem schweren Unfall (in Adelaide 1995; Anm. d. Red.) nicht mehr ganz intakt. Ob es etwas damit zu tun hatte oder ob es sein eigener Fehler war, weiß ich nicht, aber er glaubte jedenfalls, eine Funknachricht vernommen zu haben, an die Box zu kommen, also tat er das. Als er dort ankam, wartete aber keine Boxencrew auf ihn, also fuhr er einmal durch die Boxengasse zurück auf die Strecke."


DSF Plus: Entscheidende Szene in Melbourne 1998

Plötzlich hat Häkkinen 13,5 Sekunden Rückstand - und McLaren steht vor einem Schlamassel, denn konträr zu Coulthards Schilderung räumt das Team ein, den Fehler selbst begangen zu haben. Demnach soll sich Renningenieur Steve Hallam mit der Rundenzahl verrechnet haben. Also ist für Dennis & Co. klar: Wir korrigieren unser Missgeschick, Mika darf trotzdem gewinnen. Coulthard funkt man ins Cockpit: "Don't worry about the money." Sprich: Das Preisgeld bekommst du trotzdem.

Coulthard: Nicht zum ersten Mal die Nummer 2

Aber der neue Leader würde lieber die zehn Punkte für den Sieger behalten: "Ja, wir hatten vor dem Rennen eine Vereinbarung getroffen, aber es war Mikas Fehler. In meinen Augen hätte er damit leben müssen. (...) Man kann sich also vorstellen, wie ich mich fühlte, als kurz vor Runde 55 plötzlich mein Funk zum Leben erwachte und der Teammanager sagt: 'David, du musst für Mika Platz machen!' Ich hatte die Teamorder, für Mika Platz zu machen, also tat ich das, bei Start und Ziel. Schon wieder."

Schon wieder? Ja, denn bereits beim vorangegangenen Grand Prix, dem Saisonfinale 1997, hatte McLaren Coulthard während des Rennens gebeten, Häkkinen durchzulassen. Coulthard hat auch an Jerez lebhafte Erinnerungen: "Ich lag zunächst hinter Mika, kam aber vor ihm aus der Box raus. In Runde 66 funkte Teammanager Dave Ryan, dass ich Mika überholen lassen soll. Ich fragte nur: 'Warum?' Und dann hatten wir ein paar Runden lang eine sehr hitzige Diskussion."

Jacques Villeneuve, Giancarlo Fisichella, Melbourne 1998

Titelverteidiger Jacques Villeneuve hat 1998 im neu lackierten Williams keine Chance Zoom

Coulthard hatte sich zunächst geweigert, bis er den Satz hörte: "Wenn du nicht Platz machst, kompromittierst du damit deine Position im Team." Was für ihn so klang wie: "Dann wirst du gefeuert!" Später stellte sich heraus: Nach der WM-entscheidenden Kollision zwischen Villeneuve und Schumacher trafen Williams und McLaren eine Absprache, wonach Villeneuve die beiden McLaren-Piloten gewinnen lassen sollte, weil ihm auch der dritte Platz ausreichen würde, um Weltmeister zu werden. Coulthard wurde Opfer dieses geheimen Deals.

Wunder-McLaren sorgt für eine Reihe von Protesten

Alle anderen spielen in Melbourne 1998 nur Statistenrollen - zu überlegen ist McLarens MP4-13 aus der Feder von Stardesigner Adrian Newey. Das führt prompt zu Protesten: Schon für das nächste Rennen in Brasilien wird die "Wunderbremse" (verstärkte Differenzialwirkung durch Abbremsung des kurveninneren Hinterrads) verboten - und trotzdem gibt es dort den nächsten McLaren-Doppelsieg. Außerdem verfügt der MP4-13 über das erste Energierückgewinnungs-System (KERS) der Formel 1.

Ein weiteres Erfolgsgeheimnis sind die Bridgestone-Reifen, die neben McLaren von den etablierten Topteams nur Benetton einsetzt. Zwar kann die Kombination Schumacher/Ferrari den WM-Kampf trotz der anfänglichen Überlegenheit des McLaren/Mercedes/Bridgestone-Pakets bis zum Saisonfinale offen halten, letztendlich ist der technische Vorteil dann aber doch zu groß. Melbourne-Sieger Häkkinen feiert am Jahresende seinen ersten WM-Titel.

Mika Häkkinen

Keine Frage: Die Sympathien des McLaren-Teams liegen bei Mika Häkkinen Zoom

Den ersten Grand Prix gewinnen Häkkinen/Coulthard mit einer Runde Vorsprung auf Heinz-Harald Frentzen, für dessen Williams-Team im Jahr 1998 (nach dem werksseitigen Rückzug des langjährigen Motorenherstellers Renault) eine sportliche Talfahrt beginnt. Eddie Irvine im zweiten Ferrari wird Vierter, Titelverteidiger Villeneuve Fünfter. Michael Schumacher scheidet mit Motorschaden an dritter Stelle liegend aus.

Sportwetter fühlen sich um ihr Geld betrogen

Im Nachklapp sorgt die McLaren-Stallorder nicht nur unter Sportpuristen für Diskussionen, sondern auch bei Sportwettern, die sich um ihr Geld betrogen fühlen. Mercedes-Sportchef Norbert Haug verteidigt das Vorgehen aber: "Wir müssen tun, was das Beste für die Marke ist. Unsere Fahrer sind Angestellte, ich bin Angestellter. Wir müssen so viele Punkte wie möglich machen, sonst steht man sich selbst im Weg und die Konkurrenz freut sich."

Und der Deutsche ergänzt: "Das war keine Vorentscheidung für die ganze Saison. Beim nächsten Mal kann es auch anders sein." Die Geschichte der Formel 1 sollte ihn diesbezüglich eines Besseren belehren, denn selbst Coulthard würde heute wohl der Aussage zustimmen: Spätestens mit den Stallordern von Jerez 1997 und Melbourne 1998 war klar, welchen Fahrer das Team als Leader jener McLaren-Ära haben wollte.


Fotostrecke: Triumphe & Tragödien in Australien

Das zeigt sich dann auch bei der Siegerparty im Melbourner Crown-Casino, zu dem Ron Dennis mit stolz geschwellter Brust ankommt, beide Pokale in der Hand. Auch Häkkinen und Gattin Erja feiern bis in die Morgenstunden. Häkkinens "Thank you, David" geht aber ins Leere - sein Teamkollege hat sich schon unmittelbar nach dem Rennen mit Freundin Heidi zurückgezogen, um seinem Ärger Luft zu machen...