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Die Analyse: Reifenregel auf Kosten der Sicherheit?

Diskussionen um das Reifenreglement reißen seit dem Räikkönen-Crash nicht ab - Analyse der Probleme, Grauzonen und Lösungsansätze

(Motorsport-Total.com) - Der Unfall von Kimi Räikkönen am Nürburgring, als sich der McLaren-Mercedes-Pilot in der 59. und letzten Runde aufgrund vom rechten Vorderreifen erzeugter Vibrationen und eines daraus resultierenden Aufhängungsbruchs spektakulär aus dem Rennen verabschiedete, hat in der Formel 1 eine zum Teil recht heißblütig geführte Sicherheitsdiskussion ausgelöst.

Titel-Bild zur News: Michelin-Reifen

Die große Frage: Ab wann stellt ein Reifen ein echtes Sicherheitsrisiko dar?

Konkret geht es um das neue Reifenreglement, welches seit Saisonbeginn vorschreibt, dass Qualifying und Rennen mit ein und demselben Reifensatz bestritten werden müssen. Das strategische Auswechseln von Reifen bei Boxenstopps ist nicht mehr erlaubt; nur noch offensichtlich beschädigte Reifen, die ein Sicherheitsrisiko darstellen, dürfen getauscht werden. Allerdings schreibt das Sportliche Reglement in Artikel 75a vor, dass gleichzeitig nicht nachgetankt werden darf.#w1#

Fakt ist: Räikkönen verursachte den Bremsplatten selbst

Laut Angaben von Teamchef Ron Dennis wusste McLaren-Mercedes am Nürburgring ab Rennmitte, dass mit Räikkönens rechtem Vorderreifen etwas nicht in Ordnung war. Beim Überrunden von Jacques Villeneuve war der "Iceman" so hart auf die Bremse gestiegen, dass das kurveninnere Vorderrad blockierte. Es folgen einige weitere Verbremser und ein Ausritt, was dem Michelin-Pneu zusätzlichen Schaden zufügte. Etwa zehn Runden vor der Zielflagge spitzte sich die Situation dramatisch zu. Der Rest ist bekannt...

Theoretisch hätte der britisch-deutsche Rennstall die Möglichkeit gehabt, Räikkönen zu einem zusätzlichen Stopp an die Box zu beordern und den rechten Vorderreifen zu wechseln, doch in Absprache mit dem Fahrer selbst entschieden sich die Herren am Kommandostand dafür, alles auf eine Karte zu setzen und auf den Sieg loszugehen. Von vielen Medien wurde dies heftig kritisiert, fast alle Konkurrenzteams sympathisieren aber mit McLaren-Mercedes.

"Wer auf Nummer sicher geht, fährt nicht um den Sieg", rechtfertigte sich Mercedes-Sportchef Norbert Haug gegenüber der 'Welt', "und wir stehen dazu, wie wir es gemacht haben." Und Ron Dennis fügte an: "Wir haben das Risiko abgeschätzt und den Preis dafür bezahlt. Wir haben uns den Reifen angeschaut, und alles schien in Ordnung", so der Brite.

Entsprechender Passus im Reglement unklar definiert

Die silbernen Entscheidungsträger vermeiden es zwar, Kritik am Reglement zu üben, pochen inzwischen aber wenigstens auf eine Klarstellung von Artikel 74a. Hintergrund: Wechselt ein Team sicherheitshalber einen Reifen, der noch nicht vollkommen platt ist, obliegt es der FIA, den Boxenstopp im Nachhinein als gerechtfertigt oder nicht gerechtfertigt einzustufen. Hätte Räikkönen beispielsweise seinen Reifen im Frühstadium des Bremsplattens gewechselt, so wäre er möglicherweise nachträglich disqualifiziert worden. Nur ein echtes Sicherheitsrisiko rechtfertigt einen Reifenwechsel - aber das ist ein dehnbarer Begriff...

"Das Reglement ist eindeutig. Über die Regeln kann und muss sich auch McLaren-Mercedes informieren", konterte Charlie Whiting, Technischer Delegierter der FIA, auf entsprechende Vorwürfe aus dem Fahrerlager. Doch damit hat er nicht ganz Recht: "Solange ein vorbeugender Reifenwechsel nicht aus klar ersichtlichen Sicherheitsgründen notwendig ist, darf nur ein platter oder beschädigter Reifen während eines Rennens gewechselt werden", heißt es in Artikel 74a des Sportlichen Reglements. Und wieder ist die Frage: Wer definiert dies im Zweifelsfall?

Legaler oder illegaler Wechsel: Wo zieht man die Grenze?

"Ich denke nicht, dass man einen Reifen mit einem Bremsplatten wechseln darf", findet beispielsweise Renault-Chefingenieur Pat Symonds, wie er im Interview mit 'Autosport-Atlas' zu Protokoll gab. "Wenn man einen beschädigten Reifen auswechselt, wird man vor die Rennleitung zitiert, um den Wechsel zu erklären. Das ist Tatsache. Es gibt keine Präzedenzfälle, daher ist viel Spielraum für Interpretationen gegeben. Aber ich meine, dass es der Fehler des Fahrers ist, wenn man sich durch einen Verbremser einen Bremsplatten einhandelt. Daher glaube ich nicht, dass die Rennleitung über solche Reifenwechsel begeistert wäre."

Die FIA wiederum argumentierte noch am Nürburgring, dass man bei Räikkönen natürlich einen straffreien Reifenwechsel zugelassen hätte. Der Finne hätte also durchaus an die Box kommen und einen neuen Vorderreifen abholen können, hätte dabei aber um die 20 Sekunden verloren und wäre nur auf Platz vier gelandet. Von einem Rennfahrer, der mitten im WM-Kampf steht, zu verlangen, dafür einen Sieg freiwillig zu opfern, ist nicht wirklich realistisch. Außerdem wusste das Team ja erst im Nachhinein mit Sicherheit, dass man nicht bestraft worden wäre.

Viele sprechen sich für eine Beibehaltung der aktuellen Reifenregel aus, allerdings mit gelockerten Bestimmungen, was die Sicherheitsstopps angeht. Aber: "Wenn die FIA sagt, dass jeder Fahrer mit einem Bremsplatten den Reifen wechseln darf, dann werden die Fahrer in der Runde vor ihrem Boxenstopp absichtlich die Räder blockieren und sich so einen Bremsplatten einhandeln", befürchtet Patrick Head, 30-Prozent-Teilhaber von WilliamsF1.

Reifenregel mit ein Grund für zuletzt spektakuläre Rennen

Außerdem brachte er ein weiteres Argument gegen eine Änderung der Regel in die Diskussion ein: "Der gute Rennsport, den wir zuletzt gesehen haben, ist zum Teil dadurch entstanden, dass manche Autos besser mit ihren Reifen umgehen als andere. Das ist also eine schwierige Frage, aber ich bin sicher, dass sich die FIA genau damit befassen wird. Die FIA möchte bestimmt nicht in eine Situation kommen, in der man ihr vorwerfen muss, dass sie die Gesundheit der Fahrer riskiert", so Head gegenüber 'F1Total.com'.

'F1Total.com'-Experte Marc Surer ist mit dem Briten auf einer Linie: "Wenn man eine Lockerung einführt, dann muss man sich das gut überlegen: damit es einerseits die Sicherheit verbessert, andererseits aber nicht wieder zu taktischen Spielchen führt", analysiert der Schweizer. Er kann sich vorstellen, "dass man einen Reifen wechseln darf, auch während des Tankstopps. Wenn einer beim letzten Tankstopp an die Box kommt und Vibrationen spürt, könnte er dann den schlechten Reifen auswechseln. Dadurch kann man zwar nicht schneller fahren, aber es wäre im Sinne der Sicherheit. Im Kartsport gibt es das auch."

"Wenn man nämlich sagt, dass ein Fahrer gleich alle vier Reifen wechseln darf, wenn er ein Problem hat, dann würde sich ein Boxenstopp lohnen. Dann würden plötzlich alle Fahrer vier frische Reifen abholen, aber dafür könnten sie wieder schneller fahren. Das würde in weiterer Folge bedeuten, dass sofort wieder von allen auf weichere Reifen gewechselt wird - ich denke da zum Beispiel an Ferrari, die jetzt in der Qualifikation ein Problem haben", meint Surer.

'F1Total.com'-Experte gegen allzu starke Lockerung

Und weiter: "Also würden sie weichere Reifen nehmen, die bei Rennmitte hinüber sind. Dann würden sie an die Box kommen, einen Reifensatz abholen, der eine Sekunde schneller ist, und damit das Rennen zu Ende fahren. Die frischen Reifen sind ja schneller, da holt man die Zeit vom Boxenstopp locker auf. Das würde sofort zu taktischen Reifenwechseln führen", erklärt der 81-fache Grand-Prix-Teilnehmer.

Übrigens hat Surer Verständnis für die "Silberpfeile": "Es war Kimis eigene Entscheidung, mit diesem Reifen weiterzufahren. Ich hätte es genauso gemacht. Wir Rennfahrer gehen nicht wegen einem schüttelnden Reifen an die Box, wenn wir die Chance auf den Sieg sehen. Auf dieser Piste war das zum Glück nicht gefährlich, aber in Montreal wäre das etwas anderes gewesen. Dort gibt es keine oder weniger Auslaufzonen, da wäre so etwas saugefährlich", analysiert er.

Eine Lösung zu finden, die einerseits die durch das aktuelle Reifenreglement hervorgerufene Spannung und den Kostenaspekt berücksichtigt, andererseits aber nicht auf Kosten der Sicherheit geht, ist insofern schwierig, als die Reifenhersteller natürlich immer bestrebt sein werden, möglichst am Limit zu operieren, um entsprechend konkurrenzfähig zu sein. Das millionenschwere Wettrüsten in der Formel 1 führt dazu, dass Sicherheit dem Gewinnen untergeordnet wird.

Drohen nun Disqualifikationen, wenn nicht gewechselt wird?

Die FIA versucht zumindest, dem gegenzusteuern, indem man für die nächsten Rennen Disqualifikationen androht, falls ein Fahrer mit einem offensichtlich gefährlichen Reifen nicht zum Sicherheitswechsel kommt: "Reifenmanagement ist ein essentieller Teil der Teamstrategie", ließ ein FIA-Sprecher gegenüber 'Autosport-Atlas' ausrichten. "Die meisten Formel-1-Rennen wurden mit nur einem Reifensatz bestritten. Außerdem kann und soll ein gefährlicher Reifen gewechselt werden."

Aber trotz dieser Präzisierung gilt: Wer entscheidet, wann ein Reifen gewechselt werden darf? Wie aufgewetzt muss eine Lauffläche sein, damit ein Sicherheitsstopp gerechtfertigt ist? Es gibt also Klärungsbedarf. Doch selbst wenn es denkbar schwierig oder fast unmöglich ist, den entsprechenden Passus im Reglement genauer zu definieren, muss eine Lösung gefunden werden. Doch dafür sind nicht Journalisten, sondern wesentlich schlauere Herren in Paris zuständig...