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  • 17.06.2016 13:07

  • von Haidinger, Stritzke & Wittemeier

Le-Mans-Starterfeld auf 60 Autos erweitert: Zu viel des Guten?

Dieses Jahr sind in Le Mans, wo der Verkehr die größte Herausforderung darstellt, statt 56 sogar 60 Autos am Start: Wie die LMP1-Teams mit dem Problem umgehen

(Motorsport-Total.com) - Das Starterfeld bei den 24 Stunden von Le Mans wird immer größer. Während über viele Jahre 55 Boliden die magische Schallmauer waren, wurde 2012 die 56. Box für innovative Konzepte eröffnet. 2016 vergrößerte man das Starterfeld durch die neugebauten Garagen auf ganze 60 Starter. Das bedeutet: durchschnittlich alle 222 Meter ein Auto. Und das bei einem Rennen, auf dem die zahlreichen Überrundungsmanöver den Ausgang grundlegend mitentscheiden.

Titel-Bild zur News: Patrick Long, David Heinemeier Hansson

Herkulesaufgabe: Der Verkehr wird in Le Mans dieses Jahr noch dichter Zoom

Hat der ACO es also mit der Vergrößerung des Starterfeldes zu weit getrieben? Wo ist die magische Grenze beim 24-Stunden-Klassiker, an dem Amateure und Profis teilnehmen? "Es fühlt sich an, als seien es 100 Manöver pro Runde", ächzt der zweimalige Le-Mans-Sieger Alex Wurz, der neun Mal an der Sarthe angetreten ist.

Und er glaubt, dass sich die zusätzlichen Autos bemerkbar machen werden: "Man wird das spüren." Dennoch ist der Österreicher der Ansicht, dass sich die 60 Starter auf dem 13,629 Kilometer langen Kurs in Le Mans "besser verteilen als die gut 30 Starter auf einer normalen WEC-Strecke".

Verkehr auch für GT-Piloten große Herausforderung

Dafür bringt der 24-Stunden-Marathon die Piloten deutlich mehr an die physische Grenze. Und das erhöht die Fehlerquote massiv. Dazu kommt noch ein anderer Aspekt: Dieses Jahr sind im Gegensatz zum Vorjahr (14) nur neun LMP1-Boliden am Start, dafür aber mit 28 GT-Autos um fünf mehr als 2015.

Es wird also mehr überrundet werden. Toyota-Pilot Mike Conway ist zwar nie in der GT-Klase gefahren, weiß aber wegen der enormen Geschwindigkeitsunterschiede beim Bremsen und Beschleunigen, wie schwierig es für die Piloten ist, auf einen herannahenden LMP1-Boliden zu reagieren.

"Sie sagen, dass sie auf der Geraden nichts von uns sehen, dann bremsen sie die Kurve an, und bamm! - auf der Innenspur sticht ein LMP1 durch", versetzt er sich in die Lage der GT-Piloten. "Wir sind zwar manchmal durch sie genervt, aber wir wissen, dass es für sie sehr schwierig ist, alles im Überblick zu haben. Deswegen versuchen wir, sie nicht im letzten Moment zu überholen. Wir wollen uns vorher zeigen."

Manche Amateure klar überfordert

Die meisten LMP1-Piloten stoßen sich weniger an den GT-Autos an sich, sondern eher an den Amateuren, die manchmal mit der Situation überfordert sind. " Es ist sehr schwierig, eine Linie zu ziehen und zu sagen: Ab dieser Zahl ist es zu viel!", erklärt Audi-Pilot Lucas di Grassi. "Wenn 70 Autos antreten würden und in allen sitzen sehr gute Piloten, die wissen, was sie tun, dann hätten wir überhaupt kein Problem. Das ist aber nicht bei allen Amateuren der Fall."

Toyota-Routinier Stephane Sarrazin, der dieses Jahr zum 15. Mal in Le Mans antritt, hat diesbezüglich auch schon bei Fahrerbesprechungen Kuriositäten erlebt. "Vor den Kurven gibt es immer die Schilder mit den Meterangaben 50, 100, 150 und 200, die als Hilfe zum Finden des Bremspunktes dienen sollen", erzählt der Franzose. "Irgendwann hat mal ein Amateur gefragt, ob man nicht ein Schild bei 400 Meter aufstellen könnte. Das sagt alles..."

LMP1-Asse zu Risiko gezwungen

Auf der Strecke kann eine derartige Begegnung schon mal zu Bluthochdruck unterm Helm führen. "Du hast bei jedem die Schnauze voll, der dir mitten in einer Kurve begegnet", schildert Wurz. "Es ist manchmal so, dass diese Jungs zu dritt nebeneinander fahren. Dann musst du im LMP1 lupfen, manchmal durch den Dreck. Dabei verlierst du locker mal fünf Sekunden, und es versaut dir den Schnitt."

Das kann sich im schlimmsten Fall sogar auf die Karriere auswirken: "Die Teamchefs schauen immer auf den Rundenschnitt. Da musst du dich immer entscheiden, ob du mehr Risiko eingehst oder nicht."

Die Verantwortung liegt im Zweifelsfall beim LMP1-Piloten und nicht beim Amateur: "Er muss immer die Kapazitäten frei halten, um mit diesen Situationen zurecht zu kommen. Und es ist immer derjenige in der Verantwortung, der von hinten kommt - eigentlich wie im normalen Straßenverkehr."

LMP1-Teams setzen auf "Amateur-Warnsystem"

Doch wie können die Piloten bei voller Fahrt erkennen, bei welchem Fahrzeug ein Amateur am Steuer ist, um ihre Fahrweise daran anzupassen? In speziellen Fällen geben die Renningenieure ihren Fahrern per Funk Warnungen durch, wer da gerade im Fahrzeug sitzt.

Als zum Beispiel Grey's-Anatomy-Star Patrick Dempsey, der dieses Jahr eine Fahrpause einlegt, an der Sarthe debütierte, war "der Schauspieler" bei den Rennprofis Dauerthema. Sie wollten stets informiert werden, wenn sich der US-Amerikaner, der sich inzwischen gut im Langstreckensport eingefunden hat, in der Nähe befindet.

Die LMP1-Teams haben für solche Fälle eine eigene Struktur. "Es haben sich in den Jahren immer ein paar Auto herauskristallisiert, die dann bei einigen auf der Blacklist stehen", gibt Audi-Sportchef Wolfgang Ullrich Einblicke. "Bei der Startnummer sowieso geht es dann in den 'Alarmmodus'. Da war es schon oft sehr wertvoll, wenn ein Fahrer über den Spotter oder den Ingenieur zu hören bekommen hat: ' Pass auf, dein spezieller Freund ist gerade vor dir. Achtung!'"

Herausforderung Überrunden

Das funktioniert in der Praxis aber nicht immer, wie sein Pilot di Grassi erzählt: "Man hat nicht die Zeit, den Ingenieur per Boxenfunk jedes Mal zu fragen, wer da gerade im Auto sitzt, weil wir viel schneller sind als die GT-Autos und oft vier, fünf, sechs auf einmal überholen - und 20 pro Runde. Im Moment, wo man erkennt, um welches Auto es sich handelt, ist man oft schon vorbei."

Audi hat diesbezüglich schon einige Schrecksekunden erlebt: 2011 flog Allan McNish, der für seine gewagten Überrundungsmanöver bekannt war, bei einer Kollision mit einem GT-Ferrari ab, überschlug sich und landete beinahe hinter den Leitplanken. Im gleichen Rennen kollidierte auch Mike Rockenfeller mit einem Ferrari - sein Auto war nach dem Horrorunfall nur noch Schrott. Ergibt die Strategie Sinn, dass man eines der beiden Autos im Verkehr vorsichtiger agieren lässt?

"Da muss man aufpassen", ist Ullrich skeptisch. "Es wissen alle, dass es unheimlich schwierig ist, die Konzentration zu behalten, wenn man etwas langsamer macht. Außerdem: Wenn man bei einem Manöver zweifelt, ist die Wahrscheinlichkeit relativ groß, dass es schiefgehen wird." Denn: "Der gute Rennfahrer ist immer bei 99,999 Prozent. Er macht das, wovon er als richtig überzeugt ist. Dann bleibt er scharf und minimiert mit konsequenter Herangehensweise das Risiko."

Jarvis fordert: Bessere Vorbereitung für Amateure

Also muss man bei den Amateuren ansetzen. Inzwischen schreibt der ACO Simulatoreinheiten vor, außerdem müssen alle Fahrer am Vortest teilnehmen. "Wir sollten aber vielleicht sogar einen Schritt weitergehen und die Bedingung stellen, dass die Fahrer bereits eine gewisse Anzahl an Rennen absolviert haben müssen", schlägt Audi-Pilot Jarvis vor.

Die Einsätze sollten im Vorfeld des 24-Stunden-Klassikers stattgefunden haben, "damit die Piloten "nicht nach fünf Jahren ohne Rennerfahrung wieder zurückkommen." Damit will er lediglich die Sicherheit verbessern, seine Kollegen aber keineswegs schikaniere, denn auch dem Briten liegen wie auch einigen anderen LMP1-Stars die Amateure am Herzen: "Wir sollten nicht verhindern, dass diese Fahrer in Le Mans antreten können. Denn auch das gehört zum Mythos dazu - diese Mischung aus Profis und Amateuren."